Eben noch im Stadtgarten, jetzt auf unserer Showbühne!
Kolumne: Ferien mit Oleg
ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg ist ein Muttersöhnchen. Ich habe gar nichts dagegen, dass Männer ein vernünftiges Verhältnis zu der Frau haben, die sie auf die Welt gebracht hat. Aber vier Telefonanrufe pro Tag halte ich für einigermaßen unvernünftig. Riefe ich meine Mutter auch nur zweimal pro Woche an, würde sie einen der schlimmeren Psychologen Odessas auf mich ansetzen. Und meine Mutter lebt 2000 Kilometer entfernt, in einem anderen Land, sogar in einer anderen Zeitzone.
Den ersten Anruf machte Oleg am Freitagnachmittag, während ich den Motor startete, um uns zur Basa Otdycha in der Nähe der Hafenstadt Juschnij zu bringen. „Mama, wir fahren jetzt los, bisschen ausspannen, ich meld mich später…klar weiß der Kolumnist, wohin wir müssen”, sagte Oleg, verabschiedete sich und fragte dann mich: „Kennst du den Weg?”
„Gute Frage”, sagte ich.
„Schlechte Antwort”, sagte Oleg.
„Wird schon.”
„Glaub auch.”
Natürlich sind wir umhergeirrt. Oleg will im Auto keine Straßenkarten lesen, weil ihm davon schlecht würde, und ich kann so etwas ohnehin nicht, nicht mal in meiner Wohnung. Mein Orientierungssinn würde es gerade noch schaffen, mich auf einem Bauernhof zum Kuhstall zu navigieren. Dummerweise lebe ich mit dieser Schwäche im denkbar ungünstigsten Land Europas. Wenn ich von Odessas Zentrum zum Flughafen fahre, bin ich 20 Minuten unterwegs. Auf der gesamten Strecke ist der Flughafen einmal ausgeschildert – ziemlich am Anfang, und zwar dort, wo es geradeaus geht. Dass man nachher noch fünfmal abbiegen muss, um ans Ziel zu gelangen, wird als Wissen vorausgesetzt. Da Oleg und ich auch nicht die Typen sind, die rechts halten, die Scheibe herunterlassen und einen Ortskundigen befragen, wurden aus geplanten und geschätzten fünfzig Kilometern am Ende neunzig. In den kurzen Pausen war ich zu erschöpft gewesen, um ihn zu erwürgen, und Oleg hatte keine Hand freigehabt, weil er mit seiner Mutter telefonierte.
Die Basa Otdycha war eine Bungalowsiedlung dicht am Strand. Eine der Köchinnen stellte uns noch ein Abendessen hin und sagte schließlich, ehe sie den Speisesaal verließ, in dem um kurz nach neun nur noch Oleg und ich saßen: „Erholt euch gut.”
„Hoffentlich haben die hier keine Plumpsklos”, flüsterte Oleg.
„Fürs Blog wär’s gut.”
Unser Quartier hatte ich über den Schwager meiner Vermieterin gebucht, der in einer Firma arbeitet, dessen Geschäftsführer mit einer Frau befreundet ist, in deren Restaurant hin und wieder einer speist, der über den Taufpaten seines zweiten oder dritten Kindes den Direktor der Basa Otdycha kennt – für ukrainische Verhältnisse hatte ich also recht direkt und unumständlich gebucht. Den Abend ließen wir mit ein paar Bieren vor unserem Bungalow ausklingen. Wir spielten Karten, irgendein Autoquartettspiel, das Oleg an der Tankstelle gekauft hatte, und erzählten uns Ferienlagerwitze. In der Nacht träumte Oleg von Ostfriesen und ich von Moldawiern und seiner Mutter.
Am nächsten Morgen sahen wir im Speisesaal nicht nur, dass es keine Teller gab, weshalb die Mütter die Brotscheiben direkt auf den Tisch legten, um sie mit Butter oder Quark zu bestreichen. Wir bemerkten auch, dass sich die anderen Urlauber – ich hatte noch nie größere Familien gesehen als diese mit fünf bis acht Kindern – vor dem Frühstück an den Händen hielten und ein Gebet sprachen.
„Wohin hast du mich bloß verschleppt?”, fragte Oleg.
„Es ist ein Erholungsheim der Kirche, was hast du erwartet?”
Oleg trank einen Schluck Tee und sagte: „Wir wollen ja nicht unangenehm auffallen. Oder wollen wir das?”
„Nein.”
„Na dann, du oder ich?”
„Du!”
Oleg erhob sich von seinem Stuhl und griff meine Hand, zog mich hoch, räusperte sich, schloss die Augen und sprach sehr leise: „Lieber Gott, wenn es Sie wirklich geben sollte, machen Sie bitte, dass der Kolumnist heute Nacht nicht wieder so laut schnarcht. Und dürfte ich Sie vielleicht noch um einen zweiten Gefallen bitte? Bitte sorgen Sie auch dafür, dass die Leute nicht denken, der Kolumnist und ich seien ein Paar. Der zweite Wunsch ist mir übrigens noch ein bisschen wichtiger. Danke und Amen.” Oleg öffnete die Augen und stierte mich an. Er nickte mir streng zu, schnitt eine Grimasse und sagte schließlich, weil ich immer noch nicht kapiert hatte: „Nun mach schon, ich muss noch telefonieren!”
„Amen?”
„Geht doch.”
„Warum siezt du eigentlich Gott?”, frage ich.
„Er hat mir noch nicht das Du angeboten.”
Am Mittag stiegen wir auf den Berg, um von oben die Bungalowsiedlung und das spiegelglatte Meer anzuschauen. Alte Ladas, klein wie Matchbox-Autos, torkelten über die schlammige und holprige Straße. In der Ferne schaukelten Möwen. Wir entdeckten schon lange halbfertige Häuser, ein Scheißhaus, das sich diesen Titel redlich verdient hatte, und schließlich ein Feuer im Gestrüpp.
„Soll das brennen?”, fragte ich.
„Das brennt freiwillig”, sagte Oleg.
Er wischte mit seiner Hand einmal den Horizont entlang, atmete aufdringlich, legte sich ins vertrocknete Gras und schaute zum Himmel hinauf. Wir schwiegen fünf Minuten.
„Ist die Ukraine nicht eigentlich wunderschön?”, fragte er dann.
„A-ha.”
„Was?”
„Ich weiß nicht”, sagte ich.
„Was stört dich denn jetzt wieder?”
„Ich weiß nicht, ob ich auf Dauer in einem Land leben könnte, in dessen Plattenläden es drei CDs von Modern Talking gibt und sogar zwei von Thomas Anders, aber nicht die neue CD von a-ha. Plattes Land.”
„Das war jetzt ganz knapp unter deinem Niveau und sehr deutlich unter meinem”, sagte Oleg.
„Mein Niveau ist im Kurzurlaub.”
Am Abend, bevor wir zur Stranddiskothek aufbrachen, rief Oleg abermals seine Mutter an. „Ich bin jetzt ein paar Stunden nicht erreichbar”, sagte er und lauschte. „Nein, ich mache nicht so lange…ja, kannst dich auf mich verlassen…ich trinke höchstens vier…okay, drei…bis später, Mama…mach dir keine Sorgen. Der Kolumnist passt auf mich auf…nein, Mama, das ist kein Grund, sich erst recht Sorgen zu machen.”
Am Vormittag hatten wir eine halbe Stunde lang einen Spiegel gesucht. Es gab in der ganzen Bungalowsiedlung nicht einen, weder in der Gemeinschaftsdusche noch über irgendeinem der vielen Waschbecken im Gemeinschaftsklo. Oleg hatte mich sogar genötigt, die Damentoilette auszukundschaften, und derweil Schmiere gestanden. Da er nicht wollte, dass wir ausgingen, wie wir aussahen, stellte er sich vor mich hin und richtete auf meine Hinweise seine Haare. Er wichste sich Tuben-Gel in die Handfläche und fragte mich, wie er es verteilen müsse, holte einen Kamm aus der Gesäßtasche und ließ mich dirigieren.
„Ich denke, das sieht gut aus”, sagte er. „Und jetzt du, Spiegel-Kolumnist!”
„Oleg, wir gehen in eine ranzige Stranddiskothek. Es gibt dort nicht mal ein Klo, und das Meer zählt nicht.”
„Und das, was du da auf dem Kopf hast, zählt nicht als Frisur.”
„Seit ich denken kann, hatte ich noch nie eine Frisur. Ich habe nur Haare”, sagte ich und zupfte irgendwo herum, um Oleg einen Gefallen zu tun.
„Dein Scheitel ist auch nicht mehr das, was er heute Morgen noch war.”
„Besser?”, fragte ich.
„Nö.”
„Besser?”
„Nö.”
In der Diskothek versuchte Oleg, eines der Mädchen zu erobern, die er nachmittags am Strand begutachtet und für begehrenswert befunden hatte. Nach dem sechsten oder siebten Wodka war allerdings sein Orientierungssinn dahin, und Oleg hatte Mühe, das Mädchen aus Lugansk nicht mit dem Mädchen aus Lviv zu verwechseln. Ich ließ ihn irgendwann zurück und torkelte davon. Vor dem Schlafengehen inspizierte ich noch Olegs Telefon – zwei Anrufe in Abwesenheit.
Ich weiß, dass Oleg ein enges Verhältnis zu seiner Mutter hat, ich weiß auch, dass Ukrainern die Familie heilig ist, jeder kümmert sich um jeden, sicher auch, weil sich der Staat um nichts kümmert. In Deutschland war das auch mal so. Drei oder vier Generationen, von der Zweieinhalb- bis zur Zweiundneunzigjährigen, lebten unter einem Dach. Uropa spielte mit seinem Urenkel, sie verstanden sich prima – nicht nur, weil sie genauso viele Zähne hatten und ähnlich mobil waren. Von heute aus betrachtet, wirkt diese Welt ungemein romantisch; in Wahrheit war – und wäre – sie die Hölle.
Ich habe einmal einen Familientherapeuten gefragt, wie es die Leute – Tochter, Mutter und Großmutter, Sohn, Vater und Großvater – früher ertragen hätten, sich so nahe zu sein. „Sie hatten ja meist gar keine Wahl”, sagte der Mann und kratzte sich am Kopf. „Und jeder siebte ist halt mit einem sehr dicken Strick auf den Dachboden gestiegen und nicht mehr runtergekommen.”
Natürlich war die Luft in dieser Provinz sauberer als in Odessa, das Wasser klarer und geruchloser, die Stille ein bisschen durchdringender. Es hüpften sogar ein paar Vögel herum, die ich in der Stadt noch nie gesehen hatte und die wahrscheinlich jeden Ornithologen ziemlich geil machen würden. Aber ein stabiles Ökosystem bedeutet eben auch: Mücken, Ameisen und Käfer vorm und im Bungalow, im Klo und in der Dusche. Am Morgen, nachdem er in der Diskothek beinahe verendet wäre, reichte es Oleg. Er griff zum Telefon und drückte die Wahlwiederholung.
„Mama, hast du einen Tipp, was wir gegen diese fiesen Insekten tun können?”, fragte er, hörte ein paar Minuten aufmerksam zu, nickte hin und wieder, mehr zu sich allerdings als zu mir, schließlich bedankte er sich, massierte sein Kinn und überlegte.
„Sag schon, was hat sie empfohlen?”, fragte ich.
„Kopfnüsse.”
„Kopfnüsse?”
„Kopfnüsse.”
Alle Oleg-Kolumnen:
- Das große Fressen
- Klopfschmerzen
- Oleg und die Gänsefüßchen
- Oleg und das Kolumnistenketchup
- Oleg zieht (sich) um
- Oleg feiert meinen Geburtstag
- Oleg und der Щасismus
- Oleg und die Mafia
- Berliner Kindl2
- Kolumnist unter Verdacht
- Tuning für den Brillennazi
- Oleg und der Vize-Zar des DFB
- Gasperletheater
- Oleg und das hessische Entlein
- Oleg in der Gehirnjazze
- Oleg Fiction (Gastbeitrag von Axel)
- Über Schurkenblogs
- Wann ruft Guido Knopp an?
- Mit Hitler zu vier Pingbacks
- Alles bleibt anders
- Oleg und die Bayernwahl
- Korrekturkolumne: Ich bin ein Staatsfeind
- Korruptionskolumne: Oleg ist dabei
- Meine Nächte als Gerhard Schröder
- Oleg und die Alpha-Blogger
- Einmal um den Blog
- Oleg in der Sinnkrise
- Gegendarstellungskolumne: Das sagt Oleg
- Ich leg Oleg um
- Adolf Hitler und meine Spiegel-Affäre
- Einführungskolumne: Oleg, mein Blog und ich
Bitte nicht stören!
Viktor Juschtschenko, der allseits unbeliebte Staatspräsident, wird morgen Odessa besuchen. Wie die Regionalverwaltung für Kraftfahrzeuginspektion mitteilt, müssten sich Einwohner und Gäste der Stadt auf ein paar Einschränkungen vorbereiten. Der Bericht der Nachrichtenseite “Vikna-Odesa” trägt die herrliche Überschrift:
Präsidentenbesuch: Odessiten werden gebeten, die “zu beschützende Person” nicht zu stören.
Autofahrer sollen das Zentrum für die Dauer von Juschtschenko Visite (10 bis 21 Uhr) weiträumig umfahren. Fußgänger werden aufgefordert, im Falle des Erscheinens der Präsidentenkolonne auszuweichen und nicht die Straße zu überqueren. Autos, die auf dem Bürgersteig oder am Straßenrand parken, können – sofern auch sie stören – abgeschleppt werden.
Eine junge Odessit, die ich gerade getroffen habe, sagte: “Odessa wird morgen zum Irrenhaus. Wir leben in einer Monarchie. Und Juschtschenko glaubt tatsächlich, er wäre unser König. Dabei ist er nicht mal unser Präsident.”
“Ich muss doch aber zum Flughafen”, sagte ich.
“Es ist Juschtschenko vollkommen egal, dass Herr Wesemann aus Deutschland zum Flughafen muss, um seine Schwiegereltern abzuholen.”
Heiße Bratwürstchen (w.z.b.w.)
ODESSA/KIEW, UKRAINE Iris, die einstige inoffizielle Hauptstadtkorrespondentin dieses Blogs, hat mir drei schöne Fotos geschickt. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Diskussion zur Kolumne Oleg und das Kolumnistenketchup. Ich hatte leichte Zweifel, dass es in Kiew eine Bude gibt, in der Nürnberger Würstchen gegrillt werden. (w.z.b.w.)
Kolumne: Arztgeheimnis
ODESSA, UKRAINE Ich schwöre, ich werde nie wieder über das deutsche Gesundheitssystem klagen, über keine Praxisgebühr und keine Vorzugsbehandlung von Privatpatienten. In Odessa, wo ich seit einem Jahr lebe, gibt es keine offizielle Praxisgebühr – aber ein Vorteil ist das auch nicht. Neulich habe ich mit meiner Tochter die Kinderpoliklinik in der Jüdischen Straße besuchen müssen. Ich war dort schon öfters gewesen, ich glaubte, mich auszukennen, und wartete vor dem Zimmer, vor dem ich früher mit meinem erkälteten oder fiebernden Sohn gewartet hatte. In der Ukraine ist es üblich, dass Ärzte in Polikliniken für bestimmte Straßen zuständig sind. Das wird spätestens dann unpraktisch, wenn die Familie umzieht und den Hausarzt verliert, der die Kinder immer behandelt hat. Leider steht nirgends, welcher Mediziner für welche Straße zuständig ist, man muss sich erkundigen und sollte dies in jedem Fall tun. Dass man eineinhalb Stunden vor der falschen Tür gesessen hat, erfährt man sonst im schlimmsten Fall erst, wenn der Arzt fragt: „Wo wohnen Sie?”
Stellt sich heraus, dass er für die Straße, in der man wohnt, nicht zuständig ist, bieten sich drei Strategien an. Erstens kann man den Paragrafenreiter spielen und erklären, Ausländer hätten in der Ukraine freie Arztwahl. Die zweite Möglichkeit ist, irgendwie, aber bitte ohne Prahlerei durchblicken zu lassen, dass man dem Arzt, der nicht zuständig ist, trotz der abgeschlossenen Krankenversicherung ein überdurchschnittliches Schmiergeld zahlen wird, was ganz nebenbei auch dessen Erinnerungsvermögen für spätere Besuche steigert. Anderenfalls neigen die schlecht verdienenden Doktoren zu Vergesslichkeit. Und dann kann man sich, drittens, noch dumm stellen. Ich würde eine Kombination aus zweitens und drittens empfehlen. Als Paragrafenreiter liefe man Gefahr, dass man von einem neuen Gesetz überrascht wird, das die freie Arztwahl für Ausländer aufhebt. Es werden in der Ukraine ständig neue Gesetze erlassen, die niemand kennt – außer demjenigen, der sie gerade verkündet.
Ich wähnte mich mit meiner Tochter beim richtigen Arzt und landete beim falschen. Der Mann erinnerte sich zwar an mich und fragte auch, wie es meinem Sohn gehe, es stellte sich aber heraus, dass ihm die Poliklinik die Zuständigkeit für Krankheitsfälle in meiner Straße entzogen hatte. Ich holte unauffällig mein Portmonee hervor und spielte den dummen Deutschen.
© Schweriner Volkszeitung
Lokalpatridiot
Nach 420 Tagen in Odessa ist es Zeit für ein bisschen Lokalpatriotismus.
Kolumne: Das große Fressen
ODESSA/UKRAINE Ich brauche eine ukrainische Frau. Sie kann gut aussehen, ich bestehe aber nicht darauf. Wenn sie deftig kocht, darf sie ruhig deftig aussehen.
Seit meinem Umzug nach Odessa habe ich ungefähr jeden dritten Tag Schaurma gegessen – manchmal auch zwei auf einmal. Mein Magen dürfte also, und zwar, ohne jemals zu murren, in den vergangenen 13 Monaten mehr als 130 dieser dönerähnlichen Monster verdaut haben. Ich hatte sogar einen Stammimbiss, dessen Besitzer, ein junger Mann namens Sascha, immer wusste, wie er das Schaurma für mich zubereiten muss: Pommes, ein bisschen Öko-Deko aus Gurken, geraspelten Möhren, Tomaten und Grünzeug, dazu geriebenen Käse, Mayonnaise, Ketchup und ganz viel Hühnerfleisch vom Spieß. Sascha und ich, wir verstanden uns ohne Worte. Ich brauchte nur zu nicken, schon machte er sich an die Arbeit. Er war so großzügig, mich niemals an meine ersten Bestellversuche mit schlechtem Russisch im Juni 2008 zu erinnern, und ich nahm ihm nicht übel, dass sein Schaurma irgendwann 19 Griwna kostete, sechs mehr als am Anfang, aber nicht teurer schmeckte. Alles war perfekt.
Hühnerfleisch aus dem Saustall
Vor einer Woche stand nun auf „Segodnya.ua”, jede zweite Schaurma- und Hotdogbude in Odessa entspreche nicht den hygienischen Mindestanforderungen. Ich bin kein Reinheitsfanatiker, aber wenn selbst in der Ukraine etwas als unhygienisch eingestuft wird, male ich mir schon eine gewisse Bedrohung aus, die mich am Ende zu dem Gedanken trägt: Im sauberen Deutschland würden solche Leute längst in der Gefängnisküche kochen.
Der Text in der gedruckten Ausgabe der „Segodnya” las sich noch schrecklicher. Es waren noch mehr Buden unhygienisch, und von Hotdogs war überhaupt nicht mehr die Rede. Ich übertreibe kaum, wenn ich den Bericht so zusammenfasse: Schaurma zu essen sei nach Schuss in den Kopf und Aufs-Ohr-Hauen im Gleisbett die sicherste Variante, Selbstmord zu begehen. Deshalb meide ich Sascha. Sein Fleisch fehlt mir, und ich habe nicht immer das Glück, gerade in Sanjejka zu sein.
Dort in der Pension, die ich neulich gebucht hatte, gab es morgens Nudeln auf und unter dem Schnitzel, mittags – nach einem Kartoffelsüppchen – Schnitzel mit Pommes frites und abends Pommes frites mit Schnitzel. Als Nachtisch vor dem Schlafengehen ließ ich mir dann noch einen Schaschlikspieß auf den Grill legen lassen. Ich hätte am liebsten gar nicht geschlafen, um weiter essen zu können.
Ohne die Vollverpflegung der Herbergsmutter wäre ich übrigens verhungert. Ein Deutscher, der in Odessa lebt, hatte Landsleuten, die zum ersten Mal in der Ukraine waren, Sanjejka als wunderschönen Ort zum Ausspannen empfohlen. Die Familie, Kleinkind inklusive, buchte daraufhin leichtgläubig zwei Wochen Sanjejka – und reiste nach drei Tagen wieder ab. In diesem Dorf gibt es nichts, nichts außer einem schmutzigen Strand, weder ein Restaurant noch ein Café, erst recht keine Schaurmabude. Der Dorfkonsum bietet vor allem harte Flüssignahrung an, also Wodka. Härter als der Wodka in der Ukraine ist nur noch das Toilettenpapier.
Seit meinen drei Fleischtagen in Sanjejka bin ich weniger streng zu meinem Sohn. Er ist in den vergangenen Monaten ein bisschen in die Breite gegangen – und er geht weiter. Aber im Kindergarten bekommt er auch drei warme Mahlzeiten am Tag. Nachdem er zu Hause sein Brot gefrühstückt hat, löffelt er eine Stunde später einen Napf Brei aus. Mittags gibt es meist eine offenbar gut gewürzte Gruppensuppe – jedenfalls stößt mein Sohn noch abends danach auf – und Kartoffeln mit Fleischklößen. Nach dem Mittagsschlaf, bevor ich ihn abhole, verdrückt er dann noch einen Brei. Ich habe seine Verbreiterung so lange ignoriert, bis die Kindergärtnerin sagte, mein Sohn müsse sich mehr bewegen. Dass ausgerechnet sie das sagte, fand ich durchaus bemerkenswert – das Schwerste an ihr ist keineswegs ihre Parfumwolke.
Oleg und die Normalität
Ich habe versucht, meinen ukrainischen Schaurmahändler mit einem französischen Bäcker zu betrügen. In der Bäckerei gibt es Baguettes und sogar Brötchen, die in Odessa sonst kaum zu bekommen sind. Wenn ich etwas aus Deutschland vermisse, dann sind es Brötchen. Ich dachte, sie könnten mir, endlich entdeckt, den Entzug erleichtern. Unsere Affäre ist aber an den undeutschen Öffnungszeiten gescheitert. Wenn die Bäckerei morgens um neun öffnet, habe ich längst gefrühstückt. Abends um fünf sind Baguettes, Brötchen und selbst Brote ausverkauft. Was nützt es mir da, dass die Bäckerei erst um 20 Uhr schließt?
Gestern habe ich meinen Freund Oleg gefragt, ob er mir helfen könne, eine ukrainische Frau zu finden.
„Kolumnistow, du widerst mich an”, sagte Oleg. „Falls du es schon vergessen hast: Du bist verheiratet. Das hat Kolumnistowa nicht verdient.”
„Ich suche keine Geliebte, Oleg, ich brauche eine ukrainische Köchin.”
„Du willst fremdessen!”
Ich habe Oleg erklärt, ich würde nicht auf den Spuren jener Ausländer wandeln, die sich in Odessa eine viel zu junge und viel zu hübsche Freundin suchten. Ich beobachte diese Paare gern in Cafés. Sie trinkt einen Cocktail, er nippt am Kaffee und lässt ihr, einer schlanken Salatschönheit, vom beisitzenden Dolmetscher seine Heldenschwarten auftischen. Man weiß oft nicht, für wen der beiden das Spiel entwürdigender ist. Neulich betrat ein mindestens 75 Jahre alter Mann, texanisch oder kanadisch, das Café, begleitet von einer gerade volljährigen, aber schon vollbusigen Odessitin – mehr Gehhilfe als Geliebte. Ich dachte: Lieber Gott, mach, dass es ihr Opa ist!
„Oleg, hörst du dich nun mal um?”
„Kann ich machen, aber der Knaller bist du ja nicht gerade.”
„Oleg, merk dir bitte: Männer müssen nicht schön sein. Männer müssen interessant sein.”
„Ich melde mich, wenn ich was höre, einverstanden?”
„Danke.”
„Ich muss jetzt los.”
„Wo willst du hin?”
„Ins Itaka nach Arkadia, ich muss mal wieder unter normale Leute.”
Ohne Worte: Ham wa nich
Kolumne: Klopfschmerzen
ODESSA/UKRAINE Ich bin ein Verräter. Ich habe den Sohn meiner Vermieterin, den ich kaum kenne, bei der Polizei verpfiffen. Vielleicht ist alles auch noch viel schlimmer – falls der Polizist an meiner Tür gar kein Polizist gewesen ist. Ich habe mir nämlich keinen Dienstausweis zeigen lassen.
Alles begann mit einem Klopfen an meiner Wohnungstür. Es klopft eigentlich nie jemand. Die Klingel ist sowieso kaputt. Ich habe nicht einmal ein Namensschild. Früher, in meiner ersten Odessa-Wohnung, in der Nähe des Ukrainischen Theaters, hat es gelegentlich geklopft und auch geklingelt. Meist kamen ältere Frauen, um die Werte vom Strom-, Gas- oder Wasserzähler abzulesen. In meiner zweiten Odessa-Wohnung mache ich das selbst und bringe die Ergebnisse – wie die Miete – in das Stammlokal meiner Vermieterin, das dadurch zwangsläufig auch mein Stammlokal geworden ist. Ich weiß nicht, was mit den Zahlen geschieht, nachdem ich sie abgeliefert habe. Alle paar Monate bezahle ich bei der Vermieterin kommentarlos einen dreistelligen Griwna-Betrag. Es ist nicht so, dass ich ihr vertaue, ich bin bloß zu faul, die Einzelheiten der Abrechnung zu verstehen.
Gestern stand also vor meiner Tür ein Mann von der Polizei. Er trug keine Uniform, nannte einen Namen und fragte, ob ich diese Person sei.
Ich verneinte, nannte meinen Namen und zitterte trotzdem.
„Kennen Sie ihn vielleicht?”
„Er ist der Sohn meiner Vermieterin”, sagte ich. „Aber ich kenne ihn kaum.”
„Was heißt denn kaum?”
„Er hätte fast mal meinen Boiler repariert, musste aber leider seinen Zug in den Skiurlaub bekommen.”
„Ich verstehe, dann kennen Sie ihn eigentlich doch recht gut.”
„Aber ich würde ihn nicht unbedingt wiedererkennen”, sagte ich. Damit konnte er eine Gegenüberstellung vergessen. „Ich habe auch nur die Telefonnummer meiner Vermieterin.”
„Die nehme ich.”
„Stimmt etwas mit der Wohnung nicht?”, fragte ich dann noch.
„Alles in Ordnung”, sagte der Mann, speicherte die Nummer und verschwand.
Ich bin kein Niemand mehr in meinem Viertel. Die vier Wochen auf Krücken nach meinem Unfall mit der Marschrutka haben mich zu einer Kiezgröße gemacht. Selbst die Türsteher im Supermarkt begrüßen mich per Handschlag. Wenn man ein halbes Jahr lang selbst von den Nachbarn im selben Stock ignoriert wird, nimmt man so etwas wahr. Vor einer Woche habe ich sogar Post bekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass dies überhaupt möglich sei, ich wusste ja nicht einmal, dass ich einen Briefkasten besitze. Ich entsinne mich auch nicht, jemals Postboten in Odessa gesehen zu haben, aber wahrscheinlich halte ich nur Ausschau nach gelben Fahrrädern. Gewöhnlich klemmen Zettel, meist Rechnungen, an meiner Tür, neben der stummen Klingel. Da sie ausschließlich an den Sohn meiner Vermieterin adressiert sind, kümmern sie mich nicht. Ohne meine Nachbarin von unten hätte ich von der Post nie erfahren. Sie öffnete mir den Briefkasten sogar mit einem Generalschlüssel. Wie sollte ich auch, da ich angenommen hatte, ich besäße gar keinen Briefkasten, einen Briefkastenschlüssel besitzen? Ich habe mich über die Werbung des Fitnesstudios sehr gefreut.
Mein Freund Oleg sorgt sich wegen des Polizisten um mich. „Du hast den Kerl nicht nach seinem Ausweis gefragt?”, schrie er gestern, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. „Bist du jetzt vollkommen bescheuert?”
„Weißt du, es steht nicht jeden Tag ein Polizist vor meiner Tür.”
„Du hättest nicht aussagen müssen. Warum hast du nicht den ahnungslosen Deutschen gespielt? Ihr mit eurem Übereifer, wollt immer die treuesten Staatsbürger sein. Selbst zum Dummstellen bist du zu blöd.”
„Oleg, es war bestimmt ein Polizist”, sagte ich.
„Ich sag nur: Trau keinem Polizisten, den du nicht selbst bestochen hast.”
„Lass uns etwas trinken gehen.”
„Dass ich diesen Satz mal von dir hören würde”, sagte Oleg. „Wohin gehen mir?”
„Entscheide du”, sagte ich, „ich brauche nur Bier. Viel hilft viel.”
„Bier ohne Wodka ist rausgeschmissenes Geld.”
„Wie du meinst.”
Meine Vermieterin trägt mein Verrätertum übrigens mit Fassung. Sie hat natürlich gleich angerufen und ein bisschen mit mir geschimpft. Warum ihr Sohn von der Polizei gesucht wird, habe ich allerdings nicht erfahren. Sie sagte nur: „Mach nie die Tür auf, wenn jemand klopft. Und falls irgendwer fragt, warum du in dieser Wohnung bist – du machst Urlaub, klar?” Ich zahle ihr eine sehr hohe Miete, ich denke, ich habe Anspruch auf einen Hauch Legalität. Ich will kein Kolumnist im Untergrund sein. Es wäre nicht unbedingt die Angst, die mich von diesem Schritt abhielte – ich bin bloß viel zu eitel für anonyme kolumnistische Anschläge.
Ich bin sehr, sehr eitel. Zunächst hatte ich geglaubt, ein bisschen sogar gehofft, der Polizist komme, um mich abzuführen, weil meine Kolumnen eine leichte Form des Landfriedensbruchs darstellten. Es hätte mir geschmeichelt, politischer Gefangener der Ukraine zu sein.