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Kolumne: Oleg feiert meinen Geburtstag

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat heute Früh um halb sechs vor meiner Tür gestanden – mit einer hässlichen Torte und einem dämlichen Grinsen. Durch den Spion sah alles, Oleg, Oleggrinsen, Olegtorte, ziemlich aufgequollen aus. Ich öffnete trotzdem.
„Ich wollte unbedingt der Erste sein”, sagte Oleg und schnaufte.
„Das hast du auch geschafft, Glückwunsch. Du kannst die Klingel jetzt loslassen.”
„Ich war schon mal um halb zwei hier, hast wohl gepennt.”
„Wahrscheinlich”, sagte ich.
„War vielleicht ein bisschen zu spät.”
„Oder vielleicht ein bisschen zu früh.”
„Schade.”
„Mach dir keine Sorgen, Oleg, du hast Oma, die seit zwölf Jahren unbesiegte Früh- und Erstgratulantin, besiegt.”
„Echt?”, fragte Oleg.
„Sie wird traurig sein.”
„Also, alles Gute zum Geburtstag, ich wünsche dir ein glückliches Leben, ewige Schönheit, einen reichen Mann mit einem großen … oh Pardon, falscher Text”, sagte Oleg und räusperte sich, „der ist für Irina morgen. Ich wünsche dir Geld, viel Geld, Geld ist das Wichtigste überhaupt.”
„Gesundheit, Oleg, du meinst: Gesundheit.”
„Nee, Geburtstagskolumnist, nee, Geld, ich meine: Geld.”

Ein paar Tage zuvor war ich mit Oleg bei der Ausländerbehörde gewesen, um herauszufinden, welche Dokumente die deutsche Kollegin A. für eine Registrierung braucht. Oleg, seine Kollegin und ich warteten in einem Vorraum mit Loch in der Decke, Holzleiter in der Ecke und einem schweren Schrank, auf dem ein eingestaubter Druckerkarton stand. Ringsum hingen Schreiben auf Ukrainisch, eng bedruckt und für jeden Ausländer unverständlich. Stühle gab es nicht.

Oleg säuft ab

Nach ein paar Minuten durften wir eintreten. Oleg reichte dem Beamten den Reisepass der Deutschen und trug sein Begehren vor, ein bisschen umständlich, aber höflich.
„Und wer sind Sie?”, fragte der Beamte, nachdem er Visum und Stempel studiert hatte.
„Oleg”, sagte Oleg.
„Dann sind Sie niemand. Ich kann Ihnen keine Auskunft geben.”
„Ich will doch nur wissen, welche Dokumente wir…”
„Das habe ich verstanden”, sagte der Beamte. „Aber ich antworte nur dem Direktor der jungen Frau oder seinem Stellvertreter. Auf Wiedersehen.”

Der Mann hatte Oleg gekränkt. Ich bemerkte das, als wir abends zusammen saßen. Oleg versuchte, sich schnellstmöglich zu betrinken, was ihm vortrefflich gelang. Um keine Zeit zu verlieren, schwieg er oft.
„Oleg”, sagte ich nach einer Weile, „du weißt doch, dass du in der Ukraine nichts bist, so lange du keine Millionen hast oder eine Behörde leitest. Ich muss dir doch diesen Hierarchie-Irrsinn nicht erklären, es ist dein Land.”
„Und was bin ich?”
„Du bist Oleg”, sagte ich.
„Eben, ich bin eine drittklassige Witzfigur in viertklassigen Kolumnen, ein Kolumnenkleinkomödiant vom Feinsten.”
„Erstens: zweitklassige Witzfigur, zweitens: drittklassige Kolumnen, drittens: Hauptrolle.”
„Haha, Hauptrolle, haha”, sagte Oleg.
„Ich bin doch deine Marionette, und außerdem lieben die Deutschen dich.”
„Prost!”

Der Mörder ist immer der Dichter

Ich habe Oleg von Stefan Zweig erzählt. Nachdem der österreichische Schriftsteller Tersites veröffentlicht hatte, sein erstes Drama, übernahm Adalbert Matkowsky die Hauptrolle.  Die Uraufführung 1909 am Königlichen Schauspielhaus Berlin wurde allerdings verschoben, weil Matkowsky erkrankt war. Acht Tage später war er tot. Danach schrieb Zweig für Josef Kainz Der verwandelte Komödiant. Kainz war begeistert und versprach, er werde das Stück spielen, so lange er lebe, es passe ihm „wie ein Handschuh”. Er kehrte jedoch krank von einer Gastspielreise zurück und überlebte nicht. Zweig schreibt in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern:

Dass die beiden größten Schauspieler Deutschlands gestorben waren, nachdem sie meine Verse als letzte geprobt, machte mich, ich schäme mich nicht, es einzugestehen, abergläubisch.

Zweig entsagte ein paar Jahre dem Dramatischen, bis sich der Direktor des Wiener Burgtheaters, Alfred Baron Berger, für die Tragödie Das Haus am Meer interessierte. Der Dichter schaute die Liste der Schauspieler durch und war erleichtert. „Gott sei Dank, es ist kein Prominenter darunter!”, rief er aus. In seinen Memoiren schreibt er: „Das Verhängnis hatte niemanden, gegen den es sich auswirken konnte.” Tatsächlich blieben die Darsteller am Leben – dafür starb vierzehn Tage vor Probenbeginn der Burgtheaterdirektor.

Nachdem Zweig 1931 Das Lamm des Armen beendet hatte, bat Alexander Moissi, ihm die Hauptrolle zu überlassen. Zweig lehnte ab, weil er „nicht ein drittes Mal für den größten deutschen Schauspieler der Zeit Anstoß des Verhängnisses sein” wollte. Stattdessen übersetzte er ihm ein italienisches Stück für die Welt-Uraufführung in Wien. Als die Proben beginnen sollten, entdeckte er in der Zeitung die Meldung, der Hauptdarsteller Moissi habe eine schwere Grippe. Zweig traf den Freund schon im Fieberdelirium an. Zwei Tage später war Moissi tot.
„Siehst du, Oleg”, sagte ich und beendete meinen Vortrag. „Es hätte dich schlimmer treffen können. Du lebst. Und jetzt hörst du auf, dich zu besaufen.”

Zwei Stunden später schleppte ich ihn nach Hause.

Sexuelle Vergreisung auf Raten

Oleg überreichte mir die Torte, trat ein und zog die Schuhe aus. Ich schnitt jedem ein Stück ab und kochte Kaffee. Mein Geburtstag bedeutet mir wenig. Gewiss, ich erwarte immer noch etwas von meinem Leben, ich weiß aber auch, dass eine Hochzeit mit der zauberhaften Nicole Kidman, die ich einst erwogen hatte, eher unwahrscheinlich ist, zumal ich einen Sohn mit in die Ehe bringen würde. Wenn ich erwache, fühle ich mich bisweilen uralt. Und ich bemerke an mir überdies eine gewisse sexuelle Vergreisung. So finde ich mittlerweile Frauen, die laut geigen, erotischer als Mädchen, die Haut zeigen.

Immerhin denke ich noch nicht an die Rente. Mein Onkel muss in dieser Woche entscheiden, ob er in sechseinhalb Jahren in Altersteilzeit gehen will. In der Ukraine, wo die Leute nicht wissen, was morgen ist, wirkt Deutschland manchmal verrückt. Jüngst hat mir eine Studentin aus Stuttgart geschrieben, sie komme im Januar 2011 nach Odessa und hoffe, ich könne ihr ein günstiges Hotel empfehlen. Sie wollte sogar die Preise wissen. Gern hätte ich ihr geantwortet: „Liebes Mädchen, spinnst Du? Ich weiß nicht einmal, ob es im Januar 2011 die Ukraine überhaupt noch gibt.”

Dass ich meinen Geburtstag nicht mag, hat vielleicht damit zu tun, dass am 6. April zu viele Männer geboren sind¹, die ich nicht mag: Nik P. (Schlagersänger), Hans Geißendörfer (Regisseur), Gheorghe Zamfir (Panflötenlegende), Kurt Georg Kiesinger (Bundeskanzler) und Robert Kovac (Fußballer), dem ich das verdiente Sonderzeichen über dem letzten Buchstaben schenken würde, wenn ich es denn fände. Wenigstens haben am 6. April Abba den Grand Prix 1974 gewonnen – bezeichnenderweise mit Waterloo.

Die Kaffeemaschine röchelte noch, als das Telefon klingelte.
„Wer ruft denn um diese Uhrzeit an?”, schrie Oleg. „Unfassbar!”
„Sei mal leise”, sagte ich und meldete mich, lauschte und antwortete: „Klar, du bist die Erste, wie immer.”

¹ Recherche: Magdi Aboul-Kheir – danke!

Alle Oleg-Kolumnen:


Kolumne: Oleg und der Щасismus

ODESSA, UKRAINE Es gibt zwei Dinge, die ich Oleg und mir in Zukunft ersparen werde, um unsere Freundschaft nicht noch weiter zu belasten. Vorgestern habe ich mit ihm zum letzten Mal ein Jazzkonzert besucht. Oleg liebt Jazz, er kann sich auch recht schnell begeistern – dafür gibt es sogar Zeugen -, jedenfalls ist er nicht übermäßig kritisch. In unserem letzten Konzert erzählte er mir zwei Stunden lang fortwährend, wie großartig die Musiker seien, er berauschte sich an den Improvisationen und sprach von Magie auf der Bühne, er buffte mich ständig an und fragte, ob ich denn tatsächlich hörte, dass hier ein Weltklasse-Ensemble musiziere. „Ich wünschte, es würde ewig spielen”, sagte er, „ewig, ewig, ewig! So muss das Paradies sein, oder?”
Dann war das Konzert zu Ende. Oleg klatschte genau fünfmal in die Hände, kletterte über mich hinweg, trat zwei anderen Besuchern in der Reihe auf die Füße und sprintete sogleich hinaus. Die Musiker hatten noch nicht die Bühne verlassen, da war er schon mit einem Arm im Mantel. Und er war nicht der Einzige. Mit dem letzten Ton hatte eine Massenflucht eingesetzt.

Ich habe versucht, Oleg zu erklären, es sei unhöflich, ja respektlos gegenüber den Künstlern, vor ihnen zu verschwinden. Oleg sah das anders, wie genau, weiß ich leider nicht. Wenn ich ihn kritisiere, verflucht er mich neuerdings auf Ukrainisch. Er spricht die Sprache nur schlecht, es reicht aber, um mich zu beleidigen. Nach einem dreiminütigen Redeschwall mit vielen Zischlauten fragt er jedes Mal auf Deutsch: „Kapiert, kleiner, cholerischer Kolumnist?”
„Das nimmst du zurück!”
Kleiner, cholerischer Kolumnist ist harmlos, und das wüsstest du auch, wenn du den Rest verstanden hättest.”

Ich werde Oleg, zweitens, nie wieder bitten, etwas zu reparieren. Meine Badezimmertür ist kaputt, genauer gesagt, sie ist am meisten kaputt, manch anderes in meiner Wohnung ist nur kaputt. Die Duschkabine tropft, Rohre wackeln, und wenn der Warmwasserboiler nachts anspringt, schrecke ich hoch, weil die Fensterscheibe in der Schlafzimmertür vibriert, als sei ein Orkan bei mir eingebrochen. Nein, ich gewöhne mich nicht daran, ich finde mich nur damit ab, indem ich gegen mich selbst argumentiere und mich mit dem härtesten Vorwurf konfrontiere, der einem Mann mit Wohnsitz Odessa/Am Arsch der Zivilisation einfällt, wenn er auf einen Nörgler wie mich trifft: „Deine Sorgen möcht’ ich haben, Deutscher.”

Handwerker Oleg

Aber dass sich die Klotür nicht schließen lässt, irritiert mich in gewissen Augenblicken gewaltig. Mein ganzes Leben lang, egal wo auf der Welt, haben sich Badezimmer zusperren lassen. Ich habe Rechte, und ich denke auch an meine Umwelt. Da ich nur einen Hammer besitze, rief ich Oleg an.
„Ich komme”, sagte er. „Щас¹.”
Er kam nach zwei Stunden und trank drei Biere. Zwei Tage später hatte er sein Werkzeug vergessen. Eine Woche später hätte er die Tür fast repariert, wäre nicht überraschend etwas dazwischen gekommen. Ich hatte genug.
„Oleg, gib mir einfach die Nummer eines Handwerkers. Ich kümmere mich selbst.”
„Щас, Klolumnist”, sagte Oleg, „ich ruf dich gleich zurück.”
Nach zwei Tagen rief ich wieder an. „Oleg, was ist jetzt?”
„Щас.”

So ging das eine Woche. Dann verlor ich die Geduld und stellte ihn zur Rede.
„Ich dachte, щас heißt jetzt oder gleich“, sagte ich.
„Wichtig ist nicht, was щас heißt, wichtig ist, was щас bedeutet.”
„Und was bedeutet nun щас?”
„Wenn ein Odessit, ach was, ein Slawe sagt, er mache etwas щас, dann meint er: jetzt oder gleich, in zehn Minuten, in fünf Stunden, morgen oder irgendwann. Natürlich kann er das Wort auch ironisch gebrauchen, dann meint er: Das mache ich auf keinen Fall, niemals, leck mich am Arsch, du kannst mich mal.”
„Und ich welcher Bedeutung hast du es gemeint?”
„Darüber muss ich erst nachdenken”, sagte Oleg und lachte. „Щас.”

Cholerische Anfälle im Supermarkt

Es hat eine Zeit gegeben, da gefiel mir das Zeitlupenleben der Odessiten, ich habe jedenfalls beim Blättern in meinen Aufzeichnungen eine Kolumne gefunden vom März 2008. Damals schrieb ich:

Der Müßiggang in Odessa ist ansteckend. Nie in meinem Leben bin ich ruhiger gewesen. Ich esse langsamer. Ich spreche langsamer. Ich denke noch langsamer. Ich. Schreibe. Langsamer. Ich bewege mich langsamer. Wenn ich das erste Mal im Schwarzen Meer bade, werde ich wahrscheinlich aus Faulheit ertrinken.

Vermutlich sind diese Sätze das Positivste, das mir je zu dieser Stadt eingefallen ist. Seitdem geht es bei mir nur noch bergab mit Odessa. Zu meiner Entlastung kann ich anbringen, dass ich den Text als Odessaurlauber verfasst hatte. Ich wusste noch nicht, dass man auch genervt sein kann von dieser Behäbigkeit. Mittlerweile möchte ich dreimal pro Woche im Supermarkt die Regale umschubsen, weil ich zehn Minuten an der Kasse warte, obwohl nur eine Frau mit zwei Wasserflaschen und einer Torte vor mir steht. Mindestens fünfmal am Tag höre ich das Wort щас. Selbst mein Sohn sagt es inzwischen, wenn er nicht vom Töpfchen herunter will.

Ohne Plan

Oleg hat sich entschuldigt und als Wiedergutmachung meinem Sohn einen Baukasten geschenkt. Die meisten Leute ahnen nicht, was sie Vätern antun, wenn sie dem Sohn so etwas schenken. Für Oleg gilt diese Unschuldsvermutung nicht. Er hat sich eine besondere Gemeinheit einfallen lassen. Es handelt sich um ein ukrainisches Auto samt Konstruktionsplan auf Ukrainisch. Mein Sohn ist sauer auf mich, weil die Räder ständig abfallen. Ich bin noch auf der Fehlersuche. Morgen zerlege ich das Auto zum dritten Mal. Oleg will mir unbedingt helfen.

„Sag mal, Oleg, kann es sein, dass der Odessit, nein, der Slawe, ach was, der ganze Oleg ein ziemlich widersprüchliches Wesen ist?”, fragte ich, bevor er sich verabschiedete.
„Was meinst du?”
„Jazz und щас, einerseits Hektik und Eile, andererseits grenzenlose Langsamkeit – ist dir schon mal aufgefallen, dass das seltsam ist?”
„Nö.”
„Ich bin nämlich gerade nicht sicher, ob es auf dieser Welt einen schlimmeren, unerträglicheren Menschentyp gibt.”
Oleg schaute mich an und sagte: „Doch, glaub schon.”

Die Badezimmertür halte ich bis auf weiteres mit einem Gürtel fest.

¹ sprich: sschass

Column: Oleg and the Mafia

Andreas Wagner, der in London lebt und arbeitet, hat meine Kolumne Oleg und die Mafia ins Englische übersetzt. Ich bin gerührt und danke sehr.

ODESSA, UKRAINE “In your house, incidentally, lives the Mafia,” Oleg, my friend, said yesterday.
“The Mafia?”
“Yes, the Mafia.”
“Are you sure?” I asked.
“No doubt, third floor, directly above your apartment.”
“Holy shit, the Mafia,” I said.

Oleg looked up to the ceiling and listened, he even held his breath, then he pulled me towards the window and pointed to the parking lot. A man polished the bonnet with a leathery rag while he was smoking and talking on his mobile.
“He’s got the third new car now,” said Oleg. “In August he drove a Chevrolet, in November he bought a Landrover and since a few days he owns this Jeep.”
“The guy does not look like one of the Mafia,” I said.
“That is the trick!”

I once read an interview with a police officer who is chasing the Russian Mafia in the German capital. The man’s name is Bernd Finger and he is Deputy Chief Constable in the Metropolitan Police Force in Berlin, Head of Division 4, Organised Crime, Qualified Gang Crime and Crimes Against Property, Organised Violent Crime and Prostitution. Finger said:

In every criminal organization there is ritualisation. The external signs of this – fur coats, gold chains, gold teeth, the display of wealth – are usually only found in people who have the need for this sort of showiness, ie: the stooges and henchmen. The real criminal profiteer shies away from those visible characteristics. He takes them to be unprofessional, because it is part of his strategy of separation not to seem different.

I remember that Germany’s top Mafia hunter likes holidaying in Italy. The man’s got a sense of humour. My Mafia neighbour seems a funny guy, as well. He washes his car himself, which is probably part of his disguise. He is the only resident who greets me when we meet in the stairwell. I obviously should not think badly of him. Recently, he has even asked to borrow milk. I think there is hardly a better disguise. Which Mafiosi personally borrows milk?

Crisis in Boots

If I am not mistaken, every other business in Odessa’s city center is a boutique. The other half consists of beauty salons and jewelers. The boutiques are hardly distinguishable from each other. You can see three beautiful handbags, four pairs of fine boots, five beautiful salesgirls, two ugly guards – and with a lot of luck sometimes a beautiful customer. I always thought the purpose of a business is to make sales and money. I find it difficult not to think of money laundering with this type of entrepreneurship.

“Oleg, show me the Mafia, I want to see them,” I said.
“Have you got money?”
“It’s alright.”
“That’s not enough,” said Oleg.
“I can pretend I have money.”
“Let’s go, Don Columneone.”

I don’t know the night life in Odessa. I know where I can have a beer and could recommend a few restaurants. But that isn’t anything special, because in Odessa you can eat well almost everywhere. I have not once gone dancing in this city.

Columnist Shithead Without Culture

Oleg took me to the Vis-a-Vis. The Vis-a-Vis is a casino-cum-nightclub, or vice versa, at any rate, it is on the Deribasovskaya, Odessa’s broad shopping street. I left my jacket at the cloakroom, pounced on the last free table and waited for the waiter.
“Good evening, 150 hryvnyas,” said the waiter.
I did not understand. “Good evening. Why?”
Oleg kicked my knee and whispered: “Shut it, columnist.” Then he paid.
“The table costs money?” I asked. “And what comes next? We pay for knife and fork?”
“Listen, columnist shithead, you’re not at McDonald’s,” said Oleg. “Don’t you Germans have any culture?”

Never in my life had I seen so many beauties on so few squaremeters, such long legs in such short skirts, such big breasts in such tight tops. My first thought was: These women have come from a laboratory. Men were also there, particularly bald-headed, potbellied and bloated types, and others like me who would in time become like them.
“Do you like the women?” asked Oleg.
“They’re OK.”
“That’s good enough.”
“What are they doing?” I asked. “Do they work?”
“Of course, they work,” said Oleg and roared wich laughter “but only at night.”
“Like Dracula.”

Oleg ordered vodka at my expense, whistled to himself and wiggled his feet. Now and again he looked at me and winked at me in complicity.
“Where is the crisis?” I asked. “I can’t see it.”
“Where should it be? I have not heard of mass layoffs or reduced working hours in the Mafia. ”
Oleg went to the dance floor and disappeared in a gaggle of half-naked girls. Everywhere light was flickering. The music was so loud that I couldn’t understand my own thoughts. My fingers showed traces of the duck I had eaten and shone with grease. I stared into space, I was sweating, I opened the topmost buttons on my shirt, lolled in my armchair and stretched my legs. I must have looked like a fat-bollocksed sex tourist.

The last territory

“This is Larissa,” said Oleg and sat down again. “You only have to buy her a drink, then she’ll spend the night with you, just a drink, you hear me?”
“What makes you think I need a woman?”
“You look like it.”

Larissa was wearing a knitted sweater with knitted moose antlers on the front, trainers and jeans. She looked at me and told me something I had forgotten seconds later. I looked at her and told her something that we both had forgotten seconds later. Larissa was visually and intellectually rather unimpressive, and in that way we really fitted together well.

“Oleg, where is the Mafia now?” I asked.
“Oh, little columnist,” said Oleg. “Quote: In terms of importance and familiarity the Ukrainian Mafia is, after Chernobyl, the second factor. Mafia are not just the people who shoot at Prague shop owners or wreck cars in the centre of Budapest. Mafia – that’s basically everyone. Corruption as a permanent condition of all social relations. End of quote, Yuri Andrukhovych, Disorientation on Location (Дезорієнтація на місцевості, 1999), page 120, roughly in the middle. What is it now with Larissa?”
“Listen, it’s nice of you to care about me, I appreciate this, really, I don’t hold it against you,” I said. “But I have already found my love for life.”
“Are you angry?”
“No, but if I have to buy a woman a drink in this place, and I mean: just buy her a drink, then please do not bring me the mousiest mouse you can find in this hole.”

Olegs father and the women

Oleg whispered something in Larissa’s ear, upon which she immediately rose and disappeared. He smiled gently and looked deep into my eyes.
“Columnist, I know roughly what you earn in Odessa, it’s not much. This mousy mouse is the only one you can pull,” he said. “You’re angry.”
“I’m not angry, I’m married.”
“Well, my father is, too. And with whom is he dancing back there? This is certainly not my mother. ”
“The three muscular men, are they his friends or his bodyguards?”
Oleg pondered this for a moment, he drank his vodka and ordered more, then he said: “Both. Belong to the family.”

©for translation: Andreas Wagner 2009

Kolumne: Oleg und die Mafia

ODESSA, UKRAINE „In deinem Haus wohnt übrigens die Mafia”, hat mein Freund Oleg gestern gesagt.
„Die Mafia?”
„Ja, die Mafia.”
„Bist du sicher?”, fragte ich.
„Kein Zweifel, dritte Etage, direkt über deiner Wohnung.”
„Ach du Scheiße, die Mafia”, sagte ich.

Oleg schaute zur Decke hinauf und lauschte, er hielt sogar den Atem an, dann zog er mich zum Fenster und deutete auf den Parkplatz. Ein Mann polierte mit einem Lederläppchen die Motorhaube, er rauchte dabei und telefonierte.
„Der hat jetzt schon das dritte neue Auto”, sagte Oleg. „Im August fuhr er einen Chevrolet, im November hat er sich einen Land Rover gekauft, und seit ein paar Tagen gehört ihm dieser Jeep.”
„Der Kerl sieht gar nicht aus wie einer von der Mafia”, sagte ich.
„Das ist ja der Trick!”

Ich habe mal ein Interview eines Polizisten gelesen, der die Russenmafia in der deutschen Hauptstadt jagt. Der Mann heißt Bernd Finger und ist Leitender Kriminaldirektor im Landeskriminalamt in Berlin, Leiter der Abteilung 4, Organisierte Kriminalität, Qualifizierte Banden- und Eigentumskriminalität, Organisierte Gewalt- und Rotlichtkriminalität. Finger sagte:

In jeder Verbrechervereinigung gibt es Ritualisierungen. Die äußerlichen – Pelze, Goldkettchen, vergoldete Gebisse, das Zurschaustellen von Reichtum – findet man meist nur an Leuten, die das für nötig halten, also: die Handlanger. Der eigentliche kriminelle Profiteur scheut sichtbare Merkmale, er hält sie nicht für professionell, weil es Teil seiner Abschottung ist, eben nicht aufzufallen.

Ich erinnere mich noch, dass der oberste Mafiagegner Deutschlands gern in Italien Urlaub macht. Humor hat der Mann also. Mein Mafianachbar ist wohl auch ein witziger Kerl. Er wäscht sein Auto selbst, wahrscheinlich ist das Teil der Tarnung. Als einziger Hausbewohner grüßt er mich, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Ich soll offenbar nicht schlecht von ihm denken. Neulich hat er sich von mir sogar Milch geliehen. Ich finde, es gibt kaum eine bessere Tarnung. Welcher Mafiosi borgt sich schon Milch?

Die gestiefelte Krise

Wenn ich mich nicht täusche, ist mittlerweile jedes zweite Geschäft in Odessas Zentrum eine Boutique. Die andere Hälfte besteht aus Schönheitssalons und Juwelieren. Die Boutiquen sind kaum voneinander zu unterscheiden. Man sieht: drei schöne Handtaschen, vier schöne Stiefelpaare, fünf schöne Verkäuferinnen, zwei unschöne Wachleute – und mit viel, viel Glück auch mal eine schöne Kundin. Ich habe immer gedacht, der Sinn eines Geschäfts sei es, Umsatz zu machen und Geld zu verdienen. Es fällt mir schwer, bei dieser Form von Unternehmertum nicht an Geldwäsche zu denken.

„Oleg, zeig mir die Mafia, ich will sie sehen”, sagte ich.
„Hast du Geld?”
„Geht so.”
„Das reicht nicht”, sagte Oleg.
„Ich kann so tun, als hätte ich Geld.”
„Gehen wir, Don Kolumneone.”

Ich kenne mich in Odessa Nachtleben nicht aus. Ich weiß, wo ich ein Bier trinken kann, und könnte ein paar Restaurants empfehlen. Aber das ist keine Leistung, denn in Odessa kann man fast überall gut essen. Ich habe in dieser Stadt noch nicht ein einziges Mal getanzt.

Kolumnistenkacker ohne Kultur

Oleg brachte mich ins Vis-a-Vis. Das Vis-a-Vis ist ein Casino mit angeschlossener Diskothek oder umgekehrt, jedenfalls liegt es in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße. Ich gab meine Jacke ab, stürzte auf den letzten freien Tisch zu und wartete auf den Kellner.
„Guten Abend, 150 Griwna”, sagte der Kellner.
Ich verstand nicht. „Guten Abend. Wieso?”
Oleg trat gegen mein Knie und flüsterte: „Klappe, Kolumnist.” Dann bezahlte er.
„Der Tisch kostet Geld?”, fragte ich. „Und was kommt als nächstes? Bezahlen wir für Messer und Gabel?”
„Hör mal, Kolumnistenkacker, du bist nicht bei McDonald’s”, sagte Oleg. „Habt ihr Deutschen denn gar keine Kultur?”

Noch nie in meinem im Leben hatte ich so viele Schönheiten auf so wenigen Quadratmetern gesehen, so lange Beine in so kurzen Röcken, so große Brüste in so engen Oberteilen. Mein erster Gedanke war: Diese Frauen müssen einem Labor entstammen. Männer waren auch da, vor allem glatzköpfige, dickbäuchige, aufgedunsene Typen und solche wie ich, denen das noch bevorsteht.
„Gefallen dir die Frauen?”, fragte Oleg.
„Geht so.”
„Das reicht doch.”
„Was machen die eigentlich?”, fragte ich. „Haben sie Arbeit?”
„Natürlich arbeiten sie”, sagte Oleg und brüllte ein Lachen, „aber nur nachts.”
„Wie Dracula.”

Oleg bestellte auf meine Rechnung Wodka, pfiff vor sich hin und wippte mit den Füßen. Hin und wieder schaute er mich an und zwinkerte mir komplizenhaft zu.
„Wo ist die Krise?”, fragte ich. „Ich sehe sie nicht.”
„Wo soll sie sein? Ich habe noch nichts gehört von Massenentlassungen oder Kurzarbeit bei der Mafia.”
Oleg ging zur Tanzfläche und verschwand in einem Knäuel halbnackter Mädchen. Überall flackerte Licht. Die Musik war so laut, dass ich meine Gedanken nicht verstehen konnte. Meine Finger trugen Spuren der verspeisten Ente und glänzten. Ich stierte vor mich hin, ich schwitzte, knöpfte mein Hemd ein Stück auf, fläzte mich in den Sessel und streckte die Beine. Sicher sah ich aus wie ein dickeiiger Sextourist.

Das letzte Territorium

„Das ist Larissa”, sagte Oleg und setzte sich wieder. „Du musst ihr nur einen Drink spendieren, dann verbringt sie die Nacht mit dir, nur einen Drink, hörst du?”
„Wie kommst du darauf, dass ich eine Frau brauche?”
„Du siehst so aus.”

Larissa trug einen Strickpullover mit Elchgeweih auf der Brust, Turnschuhe und Jeans. Sie schaute mich an und erzählte mir etwas, das ich Sekunden später vergessen hatte. Ich schaute sie an und erzählte ihr etwas, das wir beide Sekunden später vergessen hatten. Larissa war äußerlich und intellektuell eher unscheinbar, wir passten eigentlich gut zusammen.

„Oleg, und wo ist jetzt die Mafia?”, fragte ich.
„Ach kleiner Kolumnist”, sagte Oleg. „Zitat: Was Bedeutung und Bekanntheitsgrad angeht, stellt nach Tschernobyl die ukrainische Mafia den zweiten Faktor dar. Mafia sind nicht nur die Leute, die in Prag auf Ladenbesitzer schießen oder in der Budapester Innenstadt Autos demolieren. Mafia – das sind prinzipiell alle. Korruption als Dauerzustand aller sozialen Beziehungen. Zitat Ende, Juri Andruchowitsch, Das letzte Territorium, Seite 120, ungefähr in der Mitte. Was ist jetzt mit Larissa?”
„Hör mal, es ist nett von dir, dass du dich um mich kümmerst, ich weiß das auch zu schätzen, wirklich, ich nehme es dir nicht übel”, sagte ich. „Aber ich habe schon die Liebe fürs Leben.”
„Bist du sauer?”
„Nein, aber wenn ich schon an diesem Ort einer Frau ein Getränk spendieren soll, und ich meine: nur ein Getränk spendieren, dann schlepp doch bitte nicht die mausgrauste Maus an, die es in diesem Loch gibt.”

Olegs Vater und die Frauen

Oleg raunte Larissa etwas ins Ohr, die sich sogleich erhob und verschwand, er lächelte fein und und schaute mir tief in die Augen. „Kolumnist, ich weiß ungefähr, was du verdienst in Odessa, viel ist das wahrlich nicht. Diese mausgraue Maus ist die einzige, die du anlocken kannst”, sagte er. „Du bist sauer.”
„Ich bin nicht sauer, ich bin verheiratet.”
„Na und, das ist mein Vater auch. Und mit wem tanzt er dort hinten? Das ist bestimmt nicht meine Mutter.”
„Die drei Muskelmänner, sind das seine Freunde oder Leibwächter?”
Oleg überlegte einen Augenblick, er trank seinen Wodka aus und bestellte Nachschub, dann sagte er: „Sowohl als auch. Gehören zur Familie.”

Kolumne: Berliner Kindle 2

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg will das E-Book Leser Kindle 2. Ich soll es ihm mitbringen, wenn ich das nächste Mal in Deutschland bin. Er spricht seit zwei Wochen von nichts anderem. Er nervt. Jeden Tag erinnert er mich an die langen Wartezeiten und fragt, ob ich das E-Book Leser Kindle 2 endlich bestellt hätte.
„Weißt du überhaupt, was das ist?”, habe ich gestern gefragt.
„Ungefähr”, sagte Oleg. „Weißt du mehr?”
„Ich kenne Berliner Kindl.”
„Bringste mir auch noch mit.”

Ich weiß nicht, wie Oleg dieses E-Book Leser Kindle 2 bezahlen will. Es kostet 360 Dollar ohne Versandkosten. Wahrscheinlich wird Oleg seine Schulden bei mir abstottern, und ich stottere sie wiederum bei irgendeinem anderen ab, Oleg pumpt sich also Geld von einem, der selbst kein Geld hat und es sich pumpen muss, und vermutlich werde ich dann endlich begreifen, wie es zu dieser Finanzkrise hat kommen können.

Ich mache diesen Technikwahn nicht mit. Ich werde nie im Leben twittern, selbst dann nicht, wenn ich eines Tages wissen sollte, was das ist. Irgendwo habe ich gelesen, man brauche nur 140 Zeichen und könne mit der ganzen Welt kommunizieren. Ich frage mich: wozu?

Ich bin mit meinem Blog überfordert, weil mir Updates angeboten werden, die ich beharrlich ignoriere. Hin und wieder merke ich, dass der Mann, der mir das Blog gebaut hat, etwas neu einstellt. Früher hat mir er mir Mails geschickt und verkündet, er installiere dieses unheimlich wichtige Plugin, wenn ich einverstanden sei. Ich schrieb jedes Mal zurück: „Ich verstehe kein Wort. Erklär es mir bitte auch nicht. Mach, was Du willst.”

Mittlerweile macht er, was er will. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, falle ich ihm um den Hals.

Ich werde mir auch kein iPhone kaufen, niemals kaufe ich mir ein iPhone, selbst dann nicht, wenn ich eines Tages wissen sollte, was das ist. Mein aktueller Wissenstand ist: ein ziemlich teures Telefon ohne Schnur.

Ich habe mal einen iPod besessen. Ich hatte geglaubt, ich müsste so etwas besitzen. Vor zwei oder drei Jahren ist er verschwunden, ohne dass ich ihn vermisst hätte. Der iPod war einfach weg. Ich glaube, er hatte ein weißes Gehäuse, vielleicht verwechsele ich das aber auch mit meinem ersten Walkman oder meiner Kindergartenbrotdose.

Seit Tagen versuche ich, bei Outlook Express ein neues E-Mail-Konto einzurichten; es klappt nicht. Ich kann Nachrichten empfangen, aber nicht verschicken. Ich schreie die Tastatur an, dann besuche ich irgendein Forum im Internet und frage, was ich falsch mache, danach erhalte ich eine so genannte Antwort und schreie wieder die Tastatur an.

Die Farbe meines iPods hat mir keine Ruhe gelassen, ich habe geforscht, nach Fotos gekramt in der Hoffnung, irgendwo Kopfhörer im Ohr zu haben, und Freunde befragt, von denen ich glaube, dass sie mich einigermaßen kennen. Nichts. Keine Spur. Niemand erinnert sich an mich mit einem iPod.

Zu Weihnachten habe ich mir ein Diktiergerät schenken lassen, ein ganz flaches, und ein Mikrofon, wie es Schlagersänger benutzen, gleich noch dazu. Ich wollte meine Kolumnen einlesen. Hätte mir der Mensch, der mir das Diktiergerät geschenkt hat, nicht sagen können, wie grauenhaft meine Stimme klingt?

Vorhin hat meine Mutter angerufen. „Suchst du noch dieses Ding?”, fragte sie.
„Meinen iPod, ja.”
„Das Ding ist bei uns im Auto, wir haben es ans Radio angeschlossen, du weißt ja, wir wollten damals keinen CD-Player, weil der nur die CDs zerkratzt, wenn man über eine holprige Straße fährt.”
„Ist der iPod weiß?”
„Da müsste ich schnell in die Garage gehen. Soll ich?”
„Ach, ist nicht so wichtig”, sagte ich. „Hört ihr eigentlich meine Musik im Auto?”
„Ist alles gelöscht. Da sind nur noch Brunner&Brunner drauf, wir hören doch nichts anderes, kennst uns doch.”
„Muss euch nicht peinlich sein.”
„Ist uns nicht peinlich.”

Jetzt weiß ich, wie Technikwahn endet.

Polizeibericht: Deutscher Journalist verunglückt

ODDESSA, UKRAINE (blog) Der prominente deutsche Journalist und Kolumnist Christoph Wesemann ist bei einem Verkehrsunfall am Donnerstagmorgen auf der Autobahn zwischen Odessa und Kiew schwer verletzt worden. Über seinen Gesundheitszustand ist bislang wenig bekannt. Lebensgefahr besteht allerdings nach Auskunft seiner ukrainischen Ärzte nicht.

Wesemann hatte am Donnerstagmorgen einen Minibus bestiegen, um nach Kiew zu reisen, wo er an einer deutsch-ukrainischen Medienkonferenz teilnehmen sollte. Gegen 8.30 Uhr hielt der Fahrer auf der linken Spur, weil sich einige hundert Meter voraus im dichten Nebel ein Unfall ereignet hatte. Wenig später wurde der Bus von einem Mercedes gerammt und rutschte etwa zehn Sekunden lang über die eisglatte Straße. Wesemann begab sich sogleich in medizinische Behandlung setzte die Reise in die ukrainische Hauptstadt in einem anderen Bus heldenhaft fort und sprach gestern auch auf der Konferenz. Sein Zustand soll sich dann jedoch rapide verschlechtert haben. Wesemann hat für den frühen Abend eine Erklärung angekündigt.

Christoph Wesemann arbeitet seit Juni vergangenen Jahres als Journalist in Odessa und betreibt auch ein Weblog, eine Art Tagebuch im Internet. In Deutschland hat er sich vor allem als Kolumnist einen Namen gemacht. Der 30-Jährige schildert auf humorvolle Weise seinen Alltag in der Schwarzmeermetropole Odessa. Eine ständig wiederkehrende Figur in seinen Kolumnen ist ein gewisser Oleg.

Kolumne: Kolumnist unter Verdacht

ODESSA, UKRAINE Ich hasse Wodka. Ich mag Bier. Bier ist gut. Bei Bier merke ich, wann es Zeit wird, den letzten Schluck zu trinken und nach Hause zu gehen. Wenn ich das Gesicht im Spiegel zum vierten Mal mitleidig anlächele und es mir zum vierten Mal zunickt, ist dieser Augenblick gekommen. Bier ist so sympathisch, weil es – mit eingebrautem Harndrang – diese Selbstkontrolle erlaubt: Alle Wege führen zum Klo.

Oleg und die zweite Leber

Von Wodka tut mir nach dem Aufwachen immer alles weh, so sehr, als steckte der Körper, von der Stirn bis zu den Zehen, in einem Schraubstock – ganz gemeiner Wodkater. Wenn ich mit meinem Freund Oleg Wodka trinke, weiß ich, dass ich mir für den nächsten Tag wenig vorzunehmen brauche. Ums Überleben, um nichts sonst, geht es dann. Ich weiß nicht, wie Oleg das macht, dass er fit ist. Vielleicht trinkt er, heimlich, vor dem Einschlafen einen Eimer Sprudel-Aspirin auf Ex. Vielleicht bekommt er nachts frisches Blut. Vielleicht besitzt er eine zweite Leber.

„Prost!”, sagte ich und schlug mein Wodkaglas an seins. „Freust du dich eigentlich über mein Weihnachtsgeschenk?”
„Bist du komplett bescheuert?”, schrie Oleg. „Beim Leichenschmaus stößt man nicht an.”
„Oleg, ich verstehe kein Wort. Welcher Leichenschmaus?”
„Natascha ist tot!”
„Welche Natascha?”, fragte ich.
„Natascha! Natalia!”
„Oh, entschuldige bitte. Mein Beileid.”

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Oleg hatte mich in seine Stammkneipe bestellt. Nun tranken wir auf Natalia, die am Freitag plötzlich gestorben war. Oleg vermisst sie. Seine Augen stierten ins Nichts, seine Nase war wundrot. Er schwieg oft und trug schwarz. Aus den Lautsprechern an der Wand kam „Last Christmas” von Wham. Es war der 11. Januar. Seit einem Monat höre ich ununterbrochen irgendwo Weihnachtslieder.

Reine Routine

„Wo warst du eigentlich am Freitag zwischen eins und drei?”, fragte Oleg plötzlich.
„Zu Hause.”
„Zeugen?”
„Wie bitte?”, fragte ich.
„Kann jemand bestätigen, dass du zur Tatzeit zu Hause warst?”, fragte Oleg.
„Willst du behaupten, dass ich…”
„Ich behaupte gar nichts.”
„Verdächtigst du mich, dass ich Natalia umgebracht habe?”
„Reine Routine, ich muss das fragen”, sagte Oleg und hielt mir die Kerze ganz dicht vors Gesicht. „Ich hab Zeit, ich kann warten. Ein Geständnis wirkt sich übrigens strafmildernd aus.

Ausblick nach Sibirien

Olegs Drohungen lassen mich inzwischen kalt. Ich habe schon genug Ängste als Deutscher in Odessa. Ich habe Angst, dass der Ukraine das Gas ausgeht. Ich habe Angst, wenn ich an dem Gebäude vorbeigehe, in dem einst der sowjetische Geheimdienst KGB saß, ich erinnere mich jedes Mal an diesen Spruch: „Die KGB-Zentrale ist das höchste Haus Odessas – von dort kann man Sibirien sehen.” In der Süddeutschen Zeitung stand vor ein paar Tagen – es ging mal wieder um den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine – etwas über die „Rohstoffoligarchen, die vor allem am Zwischenhandel verdienen, die oft gleichzeitig auch Besitzer von Zeitungen und Sendern sind”. Bei „einigen dieser Oligarchen” handele es sich „um ehemalige Geheimdienstler, die nach wie vor gute Beziehungen zu früheren Arbeitsgebern unterhalten”.

Ich habe auch Angst vor den Polizisten, die neuerdings Bürger nach dem Ausweis fragen, um illegale Ausländer in Odessa aufzuspüren. Ich nehme nie irgendwelche Dokumente mit, wenn ich das Haus verlasse – natürlich aus Angst, bestohlen zu werden. Ich habe sogar Angst vor den Apothekerinnen. Sie hassen mich offenbar. Gestern brauchte ich unbedingt Nasenspray, ich hätte auch Tropfen genommen. Die Verkäuferin sagte, es gebe nichts. Ich versuchte alles, ich flehte sie an, ich röchelte sogar ein bisschen herum, ich schnappte mit weit aufgerissenem Mund nach Luft, und wenn mir auf die Schnelle eingefallen wäre, was „unterlassene Hilfeleistung” auf Russisch heißt, hätte ich auch diesen Vorwurf angebracht.

Eine Nacht mit Natalia

Ja, ich habe mit Natalia eine Nacht verbracht. Oleg war verreist. Er hatte mir den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, ich sollte ihr eigentlich bloß Frühstück bringen, weil sie gerade etwas geschwächt war, aber, mein Gott, sie ist dann abends mit zu mir gekommen. Wir schliefen in getrennten Zimmern. Da war nichts.

„Also kein Alibi von eins bis drei”, sagte Oleg.
„Ich habe Natalia nicht umgebracht. Ich habe sie geliebt wie du…wie dich…ach, was weiß ich.”
Mord aus Eifersucht“, sagte Oleg, sprang auf und schmiss dabei seinen Stuhl um. „Ich hab schon schlechtere Motive gesehen, originellere natürlich auch. Aber von einem Kolumnisten kann man wahrscheinlich nicht mehr erwarten.”

Dem Dieb brennt die Mütze

Ich schwieg und trank meinen Wodka weiter. Mir wurde schlecht.
„Du kann jetzt deinen Anwalt verständigen”, sagte Oleg.
„Dreckskerl.”
„Na vore shapka gorit”, sagte Oleg.
„Dem Dieb brennt die Mütze?”
„Das ist ein russisches Sprichwort. Bei euch bellen getroffene Hunde, glaube ich.”
„Ich bin unschuldig.”
„Du kannst gehen. Verschwinde.”

Oleg nuschelte etwas. Ich verstand nur einzelne Wörter und Satzfetzen: „SpuSi hat geschlampt … Todesursache ungeklärt … Fremdverschulden nicht auszuschließen … KTU … Durchsuchungsbeschluss … Obduktion … Gegenüberstellung … DNA-Abgleich …”

Da wusste ich, es war keine gute Idee, Oleg zu Weihnachten die Tatort-DVD-Sammelbox zu schenken – wenn ein paar Tage später seine geliebte Schildkröte Natalia stirbt.

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Kolumne: Tuning für den Brillennazi

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat mir gestern ein Geschenk vorbeigebracht. Er war ziemlich aufgeregt. Er hatte dreimal vorher angerufen und gefragt, wann ich nach Hause käme.
„Tut mir leid wegen der Brille. Das nächste Mal bin ich dein Blindenhund“, sagte er und reichte mir einen Bettbezug. „Pack schnell aus, ich habe auch eine Bohrmaschine mit, wir können gleich anschrauben, ist ja noch hell draußen.”
Ich griff in den Bettbezug und fand ein braunes Blech, nicht breit, aber lang. „Was ist das?”, fragte ich.
Tuning“, sagte Oleg.
„Wie bitte?”
„Tuning.”
„Ja, schon klar, aber was ist der Sinn?”
„Tuning.”
„Oleg, Tuning, ja, aber: wofür, warum, wieso, weshalb, wozu?
„Tuning. Außerdem friert damit die Kolumnistenkarre im Winter nicht so”, sagte Oleg. „Jetzt freu dich doch endlich.”

Ein paar Tage vorher hatten wir uns gestritten. Allmählich wird es ernster, ich schätze, wir brauchen ein bisschen mehr Abstand voneinander oder ein bisschen mehr Nähe zueinander, vielleicht werden wir wieder Freunde, vielleicht waren wir niemals Freunde, es kann sogar sein, dass wir nur noch wegen der Leser zusammen sind. Ja, wir haben uns auseinandergelebt, aber das Blog wird nicht darunter leiden, das haben wir uns versprochen.

Ich brauchte eine neue Brille, weil die alte heruntergefallen und zerbrochen war. Ich besuchte den deutschen Optiker M. in Odessa. Wenn es um meine Brille geht, bin ich Patriot. Man könnte auch sagen, ich bin ein Brillennazi. Ich lebe zwar schon ein halbes Jahr in Odessa, vertraue aber noch immer nicht ukrainischem Handwerk. Das liegt auch an Ardo FLS 105 S, meiner Waschmaschine. Ich habe sie in Odessa gekauft, sie stammt aber aus Italien. Dass sie aus Italien stammt, verrät der riesige Aufkleber neben dem Bullauge. Ich frage mal ganz naiv: Wie schlimm müssen ukrainische Waschmaschinen sein, wenn ukrainische Waschmaschinenverkäufer italienische Waschmaschinen als Spitzenprodukte anpreisen? Denkt der Ukrainer bei Italien an Fußball, Mafia, Spaghetti, Mailänder Scala, Dolce&Gabbana und Waschmaschinen?

Die Persönlichkeitsstörung des Kindergartencowboys

Beim Optiker M. hing eine deutsche Fahne. Der Chef wusste, was ich wollte, er schwieg die meiste Zeit, nickte gelegentlich unauffällig und ersparte mir die Fassungen für Männer, die Intellektuellengesichtsschmuck suchen. Mir muss niemand erzählen, eine Brille könne die Persönlichkeit hervorheben. Ich hatte früher ein Nasenfahrrad als einen Roller. Beim Fasching im Kindergarten war ich der einzige Cowboy mit zwei Halftern, einen für die Pistole, den anderen für die Brille. Wenn es zum Duell kam, zog ich erst links, um den Halunken überhaupt zu sehen, und dann rechts. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mal jemand erledigt hätte. Wer so aufwächst, entwickelt genug Persönlichkeit.

Als ich meine Brille am Sonnabendmorgen vom deutschen Optiker M. abholen wollte, war es drinnen stockfinster. Ich erkannte mit Mühe drei Gestalten, die regungslos in der Mitte des Raums standen. Der Chef erzählte, er habe die Gläser nicht schneiden und einsetzen können, weil es in der ganzen Straße keinen Strom gebe. Seine zwei Helferinnen zeigten mir ihre leeren Hände. Vor den anderen Geschäften, vor den Cafés und Restaurants brummten Generatoren und sorgten für Strom. Die Werbeschilder leuchteten, die Musik dröhnte. Mein Optiker hatte ein Batterie betriebenes Leselämpchen, das einen schmalen Streifen blauen Lichts spendete, vielleicht war es auch nur das Solarium für einen aus Afrika eingeschleusten Brillenwürger (wissenschaftlicher Name: Prionopidae). Acht Stunden später, kurz vor Ladenschluss, schaute ich noch einmal vorbei. Die drei Gestalten standen noch genauso da wie am Morgen. Nur das Glühlämpchen war jetzt tot.

Oleg macht Hündchen

Ich rief Oleg an und bat ihn, mich abzuholen, ich war verzweifelt und wütend, ich wollte mich beklagen, ein bisschen spazieren und dann irgendwo etwas essen. Ich brauchte Trost oder wenigstens Mitleid. Oleg kam erst nach einer Stunde. Er stieg aus dem Bus, brach von einer Akazie einen dicken, langen Zweig ab, reichte ihn mir, bellte ein paar Mal und schnupperte an meinem Hosenbein. Dann lachte er mich aus.

„Warum gehst du auch zu einem deutschen Optiker?”
„Deutsche Optiker sind zuverlässig.”
„Aber doch nicht in Odessa, Mensch”, schrie Oleg. „Denk doch mal nach. Hier fällt oft der Strom aus. Wenn ich eine witzige Kolumne brauche, aber der Bürgermeister gerade eine einwöchige Humorausbruchssperre verhängt hat, frage ich doch auch nicht einen deutschen Kolumnisten. Der hält sich doch daran.”
„Was willst du mir sagen, Oleg?”
„Ich mach es kurz, Kolumnist: selber Schuld, kein Mitleid.”
“Du bist ein echter Freund.”
“Weißt du, wie oft ich früher Hausaufgaben im Kerzenschein gemacht habe?”, fragte Oleg. “Es gab in Odessa Zeiten, da musste ich mit einem Feuerzeug in der Hand Bruchrechnung üben. Und trotzdem bin ich klüger als du – und schöner ja sowieso.”

Draußen war es kalt. Wir übertönten mit unserem Streit die Generatoren. Unsere Atemwolken boxten in der Dunkelheit miteinander. Oleg und ich schnauften wie zwei sibirische Schlittenhunde, die schon den dritten Tag Altkanzler Helmut Kohl und die ukrainische Schauspielerin Ruslana Pisanka durch die Arktis ziehen. Wir wollten uns prügeln. Ich verzichtete auf einen Faustkampf, weil ich mich rechtzeitig an meine Zeit als Kindergartencowboy erinnert hatte.

Verliebt in die Prinzessin der Küche

Am Abend vergaß ich in der Kneipe einen schönen Pullover, nachdem ich ohne Brille zu tief ins Glas geschaut hatte. Am Sonntagmorgen kaufte ich auf dem Priwos-Markt die Prinzessin der Küche, einen Gemüse- und Obstschneider vom Allerfeinsten. Sie kann einer Gurke eine Krone aufsetzen und eine Mandarine schälen, wie noch nie eine Mandarine geschält worden ist. Das hatte der Verkäufer jedenfalls erzählt.

Danach kaufte ich noch Casino Royale. Die DVD lag auf einem Stapel zwischen Jeanshosen und Datteln. Ich wollte sie Oleg schenken, der James Bond liebt. Oleg aber schaute die Hülle an und sagte: „Das ist Ein Quantum Trost. Falls du es vergessen hast, wir waren am 6. November zusammen im Kino. Ich hatte Karten für die Premiere besorgt.” Am Sonntagnachmittag wäre ich dann noch fast überfahren worden. Ich ging um halb acht schlafen, nachdem ich mit der Prinzessin der Küche eine Gurke massakriert hatte. Meine Brille war am Montagmorgen fertig.

Oleg streichelte die Bohrmaschine. „Es wird gleich dunkel”, sagte er. “Was ist jetzt? Schrauben wir schnell das Blech auf die Motorhaube? Drei Löcher reichen.”
„Nur wenn du mir die Prinzessin der Küche abkaufst.”
Oleg starrte den Karton an, studierte die Farben und die Aufschrift, überlegte lange und fragte dann: “Späte achtziger oder frühe neunziger Jahre, was meinst du?”
“Die Prinzessin ist eine Weltneuheit. Du findest sie noch nicht einmal im Internet.”
“Also späte Achtziger”, sagte Oleg. “Ich nehme dein Geschenk zurück. Du bist sowieso kein Tuningtyp. Guck dir doch deine neue Spießerbrille an.”

Nachtrag: Das kann kein Zufall sein. Im Wochenendmagazin der Süddeutschen Zeitung steht heute ein Interview mit Woody Allen. Eine Antwort: “Wegen der hier (er fasst sich an die Brille) halten mich die Leute für einen Intellektuellen.”

Nachtrag 2: Christian Zaschke schreibt in “Hängende Spitze”, der Montagsfußballglosse der Süddeutschen Zeitung: “Die Würger gehören zur Ordnung der Sperlingsvögel, bisweilen werden weitere Familien einbezogen; zu nennen wären Buschwürger (Malaconotidae), Brillenwürger (Prionopidae), Schnäpperwürger (Platysteiridae), Vangawürger (Vangidae) und natürlich die Warzenköpfe (Pityriasidae).”

Der Text ist leider bislang nicht online.

Kolumne: Oleg und der Vize-Zar des DFB

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg redet nicht mehr mit mir. Ich habe gestern Abend zwar eine SMS bekommen – aber die stammt von Maria, seiner Freundin, Sprecherin oder Rechtsberaterin, ich kenne die offizielle Funktion dieser Dame nicht. Maria studiert Jura, glaube ich. Sie schreibt:

Oleg besteht auf eine Entschuldigung, weil Du ihn grundlos diffamiert hast. Er hat das Wort im Wörterbuch nachgeschlagen. Unterlass das! Sobald Du Dich entschuldigt hast, wird Oleg wieder mit Dir reden. Er bietet Dir eine Kolumne an, in der Du Dich kritisch mit ihm auseinander setzen kannst. Oleg wird alle Deine Fragen beantworten. Auch Olegs Mama “missbilligt die Diffamierung meines Sohnes”.

Ich werde mich nicht entschuldigen. Ich habe Oleg nicht diffamiert. Ich stehe zu meiner Aussage. Ich hatte meine Gründe.

Oleg und ich hatten uns am Mittwochabend in der Kneipe verabredet, um das Spiel Deutschland gegen England zu gucken. Es fing schon nicht gut an. Oleg sang die deutsche Hymne nahezu fehlerfrei mit, er stand dabei eichenhaft fest und hielt die Augen geschlossen. Ich war sitzen geblieben und schwieg, ich gestehe: Ich kann den Text nicht auswendig und habe auch keinen Ehrgeiz, daran etwas zu ändern. Ich freue mich, wenn ich Fußball im Fernsehen schaue, sogar über eine Niederlage der deutschen Mannschaft, weil sich dann der Kommentator so schön ärgert und die Reporter den Spielern nach dem Abpfiff gemeine Fragen stellen müssen, was sie eher ungern tun. Ich erwarte nicht, dass jemand mein Verhalten versteht.

Das Spiel war so langweilig, dass selbst Oleg nicht mehr auf und ab ging in der Mix-Zone, sondern wieder auf dem Barhocker saß. Er bestellte sich zwei Wodka auf einmal, telefonierte ein bisschen, blätterte in der Zeitung und nickte sogar kurz weg. Er erwachte in der Halbzeitpause und fragte müde: „Wer ist dieser Jens Weinreich?”
Ein Journalist, ein sehr gescheiter”, sagte ich.
„Und wer ist Doktor Theo Zwanziger?”
„Ein Präsident, ein sehr eitler.”

Oleg schaute irritiert. Offenbar hatte er die Nachricht Unangenehmes Theodorant und den Kommentar Laaser-faire-Politik gescheitert in meinem Blog ein bisschen zu sehr quer gelesen. Ich erzählte Oleg, dass der Deutsche Fußballbund mit mehr als sechs Millionen Mitgliedern der größte Sportverband der Welt sei, erhob das Glas auf Zwanzigers Vorgänger Gerhard Mayer-Vorfelder und beschloss, meinem Freund, der noch immer kaum etwas begriffen hatte, in den nächsten Tagen ein Organigramm der Bundesrepublik Deutschland anzufertigen: Bundespräsident Horst Köhler, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundesfußballpräsident Theo Zwanziger, Bundessportpräsident Thomas Bach, Bundesjournalismuspräsident Oliver Kahn, Bundeskolumnenpräsident Franz Josef Wagner, na ja, und so weiter.

„Aber den deutschen Fußball regiert doch Zar Franz“, sagte Oleg.
„Kaiser Franz.”
„Was?”
„Kaiser, Oleg, nicht Zar.”
„Und was ist Theo dann, wenn der Zar des deutschen Fußballs schon Franz ist?”
„Zwanziger ist der Präsident, Oleg. Übrigens: Kaiser.”
„Versteh ich nicht.”
„Was verstehst du nicht?”
„Dann ist Theo der Stellvertreter von Franz, oder wie?”
„Ja, Oleg, so kann man das sehen. Die Bild-Zeitung sieht das bestimmt so.”
„Und was hat nun dieser Sportjournalist über den Stellvertreter von Zar Franz im Blog Direkter Freistoß Böses geschrieben?”
„Unglaublicher Demagoge.”
„Uiiiih”, sagte Oleg.

Ich bin mit Oleg schon ein paar Mal in Odessa zum Fußball gewesen. Oleg ist ein treuer Anhänger des FC Chernomorets Odessa und besucht jedes Spiel. Ziemlich oft begleitet er die Mannschaft auch nach Charkow, Lemberg, Kiew oder sonstwohin. Verliert Chernomorets, ist er tagelang schwermütig. In dieser Saison habe ich ihn noch nicht sehr oft unschwermütig erlebt. Chernomorets ist nur Tabellenzehnter der ukrainischen Liga.

Wenn der Stadionsprecher Odessas Aufstellung vorliest, spricht Oleg die Namen der Spieler samt Rückennummern mit. Wenn der Stadionsprecher danach den Namen des Trainers vorliest, springt er auf und klatscht. Wenn der Stadionsprecher zuletzt den Namen des Vereinspräsidenten vorliest, schreit er: „Mоooo-лоoooo-дец*.” All das wiederholt sich im Laufe eines Spiels drei- bis viermal. Da die Gastmannschaft genauso oft und genauso ausführlich über die Lautsprecher vorgestellt wird, kenne ich mittlerweile sehr viele Vereinspräsidenten und bin ein ausgewiesener Oligarchenexperte.

„Den muss man einsperren”, sagte Oleg und trank einen Schluck Wodka.
„Oleg, wenn wir jeden Demagogen in den Knast stecken würden, wäre Deutschland … warum eigentlich nicht?”
„Ich meine nicht den Stellvertreter von Franz, sondern diesen Sportjournalisten.”
„Spinnst du?”
„Der muss mindestens ein Berufsverbot kriegen.”
„Wegen Vize-Zaren-Lästerung?”

Ich schaute auf den Fernseher und dachte daran, dass ich am Freitag Studenten der Nationalen Polytechnischen Universität Odessa einen Vortrag halten würde über den Journalismus in Deutschland, über Presse- und Meinungsfreiheit, über Wahrhaftigkeit und Distanz. Es lief die 84. Minute des Länderspiels. Es kam dieser direkte Freistoß, vielleicht war es auch indirekter, eine Ecke oder Flanke, was weiß ich, ich schaute gelangweilt auf den Fernseher, sah, wie John Terry das 2:1 für England köpfte, erinnerte mich an die vergangenen 90 Minuten mit Oleg und sagte: „Du bist ein unerträglicher Olegarch.”

*Prachtkerl

Nachtrag, 20.30 Uhr: Ich habe ja immer noch die Hoffnung, dass sich wenigstens einer der Grauen Exzellenzen vom DFB verabschiedet, damit das ganze Drama nicht noch peinlicher wird. Mir fällt nur gerade nicht ein, wer aussichtsreichster Kandidat ist. Sowohl Theo Zwanziger als auch sein Vize Rainer Koch, beide promoviert übrigens, haben heute einen Fuß vor die Ausgangstür gesetzt. Hätte ich einen Doktortitel, würde ich den jetzt zurückgeben. Wenn ich das richtig verstanden habe, können die beim DFB nicht mal mit Word umgehen. Und der eine weiß nicht, was der andere sagt. Unfassbar!

Nachlesen kann man das bei Herrn Niggemeier und auf sueddeutsche.de.

Kolumne: Gasperletheater

ODESSA, UKRAINE Dies könnte meine letzte Kolumne sein. Ich kann nichts versprechen, aber es sieht ein bisschen so aus, als würde ich mich bald verabschieden. Dabei habe ich viele Ideen, ich plane zum Beispiel eine Orgasmuskolumne, um den Mangel an Leserinnen in diesem Blog zu beheben. Leider hat die Familie das Stück bislang nicht zur Veröffentlichung freigegeben, ich werde ein paar Stellen, die ich für Höhepunkte meines Schaffens halte, streichen – falls es dazu überhaupt noch kommt.

An der schweren Stahltür hängt seit gestern ein Schreiben von Odessas Gasgesellschaft. Unser Haus hat Schulden in Höhe von 1400 Griwen, also weniger als 200 Euro. Ich finde, bei einem solchen Betrag muss man nicht gleich drohen, schon morgen könne das Gas abgestellt werden. Ich gerate doch so leicht in Panik. In der Wohnung stehen drei Eimer mit Wasser für den Fall einer Dürre, ich besitze 104 Kerzen und 33 Streichholzschachteln, aber ich werde cool bleiben können, wenn die Sonne zwei Wochen am Stück nicht aufgeht, ich besitze auch so viele Spritzen, Mullbinden, Pflaster, Kompressen, Plastikhandschuhe und Vitamintabletten, dass ich halb Odessa Erste Hilfe leisten könnte, ich übe zweimal in der Woche, dienstags und freitags, an mir selbst die stabile Seitenlage und wiederbelebe gleich danach mit Mund-zu-Maul-Beatmung irgendein Kuscheltier.

Aber dieses Schreiben der Gasgesellschaft macht mich fertig. Ich fühle mich machtlos, ich habe gedacht, ein Sack Grillkohle könnte mich beruhigen. Nein, der Sack beruhigt mich nicht, der nimmt nur Platz weg. Wahrscheinlich werde ich mich von einem Wassereimer trennen müssen.

Dr. Frost oder Frieren als Studienfach

Es gibt in Odessa eine Nationale Frostakademie. Das ist kein Scherz, ich habe alles selbst gesehen: den Stempel des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine, den Dreizack, den Code, die Unterschrift eines vereidigten Übersetzers für Deutsch und Ukrainisch, die Unterschrift eines stadtbekannten Notars. Ganz oben auf dem Abschlusszeugnis stand: Nationale Frostakademie Odessa. Der vereidigte Übersetzer hat mir versichert, dies sei die korrekte Übersetzung. Ich habe mir das Foto des Absolventen zeigen lassen. Das Gesicht des Absolventen der Nationalen Frostakademie Odessa sah aus, als wäre es, nun ja, gerade aufgetaut.

Ich weiß nicht, wie lange ich in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung Kolumnen schreiben kann. Meine Form ist extrem temperaturabhängig. Mir fällt ja schon nichts mehr ein, wenn ich an den Klimawandel auch nur denke. Ohne regelmäßige Wärmezufuhr wird die Witzefabrik in meinem Gehirn irgendwann schließen, schon jetzt läuft ja die Produktion ziemlich schleppend, weil es draußen so kalt ist und ich kein Mützengesicht habe.

Mein Freund Oleg hat kein Mitleid. „Hör mal, Gasputin, hast du eine Ahnung, wie kalt es im Winter 2004 auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz war, als wir die Orange Revolution gemacht haben?”, hat er vorhin gefragt.
„Woher soll ich das wissen?”
„Es war kutschmakalt. Aber ein Revolutionär kennt keinen Schmerz. Reiß dich zusammen.”

Die Klack-klack-klack-Königin und die Wau-wau-wau-Witwe

Ich würde gern wissen, wer bei mir im Haus ein Gasdieb ist. Ich verdächtige zunächst einmal jeden und lasse mich von der langbeinigen Schönheit unterm Dach, deren Stöckelschuhe so herrlich klackern, wenn sie die Treppe hinabsteigt, genauso wenig blenden wie von der hundelieben Babuschka im ersten Stock. Ich verurteile auch niemanden – weder die Klack-klack-klack-Königin noch die Wau-wau-wau-Witwe.

Einmal im Monat klingelt bei mir eine Frau, zeigt ihren Ausweis, tritt ein, liest den Stromverbrauch ab und kassiert nichts. Zwei Tage später klingelt die Vermieterin, zeigt ihren Ausweis nicht, tritt ein, lässt mich den Stromverbrauch ablesen und kassiert die Miete. Einmal im Monat erzählt mir die Untermieterin der Hundehütte irgendetwas vom Wasser, das ich bezahlen muss. Einmal im Monat finde ich an der Tür einen Brief der ukrainischen Telekom, dabei habe ich nur ein Handy, das ich selbst auflade. Einmal im Monat, meist an jedem Dritten, bringe ich einer Telefongesellschaft, deren Namen ich gar nicht kenne, 150 Griwen vorbei, damit ich weiter Internet habe. Einmal im Monat gebe ich außer meinem Sohn auch noch einen nicht ganz kleinen Geldbetrag im Kindergarten ab.

Bisweilen, erst vorgestern wieder, spende ich dem Kindergarten Geld, weiß aber nicht mal ungefähr, wofür. Während mir die Erzieherin erklärt, was wem wann und warum gekauft werden soll, rechne ich meine Spende in Dollar und Euro um. Bisweilen, erst heute wieder, pumpt mich Oleg an. „Ich brauche was von der Kolumnistenkreditbank“, hat er gesagt. „Aber ich unterschreibe nichts. Ich habe sowieso keine Sicherheiten.” Bisweilen, wahrscheinlich schon morgen wieder, guckt mich die Frau, die den Hausflur wischt, an, als erwarte sie, dass ich mich an ihrem Lohn beteilige.

Das doppelte Ländchen

Sehr oft verlasse ich morgens mit 50 Griwen die Wohnung und komme abends mit ein paar Kopeken heim, ohne dass ich irgendeine Quittung in der Tasche habe. Nachts träume ich, dass Kolumnistenkollege Axel die Zugangsdaten meines Blogs ändert und das neue Passwort erst herausrückt, nachdem ich ihm ein Lösegeld überwiesen habe. Ich besteche Polizisten, Ärzte und Krankenschwestern, um entweder weniger scharf oder viel schärfer kontrolliert zu werden. Sollte noch irgendjemand von mir verlangen, geschmiert, bespendet, bezahlt, belohnt oder bekreditiert zu werden, verliere ich endgültig den Überblick über meine Finanzen.

Ich bin auch erschöpft, weil es in der Ukraine alles doppelt gibt. Es gibt zwei dominierende Konfessionen – die Ukrainisch-orthodoxe Kirche und die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patronats -, zwei Sprachen, zwei russische Verben für eine Tätigkeit, zwei Klitschkos. Nichts von alledem kann ich auseinanderhalten.

Trotzdem weiß ich ganz sicher, dass ich meine Gasrechnung bezahlt habe, ich könnte es sogar beweisen, wenn ich nur die Quittung hätte, ich erinnere mich, es war an dem Tag, als es so stark geregnet hat oder die Sonne brannte, ich habe ein gutes Gedächtnis, ich sehe geradezu vor mir, wie ich das Geld übergeben habe – an Oleg oder die Kindergärtnerin, an die Putzfrau oder den Verkehrspolizisten, an meinen Arzt oder eine Krankenschwester, an die Stöckelschuhträgerin von oben oder die Hundehalterin von unten, an die Vermieterin, die Stromableserin oder an Axel.