Schlagworte: Ukraine

Schöne olle Kamellen

ODESSA, UKRAINE Leonid Kutschma ist einer meiner Lieblinge. Der frühere Präsident tritt gelegentlich in diesem Blog auf; mal feiert er für vier Millionen Dollar seinen 70. Geburtstag auf der Krim, dann wieder trifft er sich nicht mit der Regierungschefin Julia Timoschenko auf einer Mittelmeerinsel. Diesmal bringe ich nur ein schönes Zitat, das mir heute Morgen im Flieger wieder begegnet ist. Wir verdanken es Kutschmas – natürlich ehemaligem – Leibwächter Mykola Melnytschenko, der einst ein Geplauder ostukrainischer Eliten im Arbeitszimmer des Präsidenten mitgeschnitten hat.

Alles Arschlöcher, deine Richter. Ich soll noch zu ihnen kommen und als Zeuge aussagen. Zieh diesen Scheißrichter an den Eiern hoch und lass ihn eine Nacht hängen.

Der Mann, der seine Richter nicht im Griff hatte, war Wiktor Janukowitsch, damals Donezker Gouverneur und heute Führer der Partei der Regionen.

Tipps vom Profi-Analysten

ODDESSA, UKRAINE Ich weiß, dass es eine journalistische Todsünde ist, den Taxifahrer zu zitieren. Ich tue es trotzdem, um Ihnen einen Anlagetipp zu verschaffen, der Sie schnell reich machen dürfte. Der Mann, der mich heute von Odessas Flughafen nach Hause gebracht hat, meint, der Dollar und der Euro stünden noch genau drei Tage sehr hoch, danach fielen beide Währungen wieder. Augenblicklich gibt es im Stadtzentrum für einen Euro 8,10 Griwen. Aber bitte verklagen Sie mich nicht, wenn Sie Ihr Ferienhäuschen verzocken. Ich zitiere nur den Analysten im Opel Omega.

Auch zur politischen Situation in der Ukraine – Ende der Koalition, vorgezogene Parlamentswahlen, Folgen der Weltfinanzkrise – liefere ich sogleich eine Einschätzung. Es sieht nicht gut aus. Der Taxifahrer riss die Hände vom Lenkrad los, pflügte mit den Fingern sein Haar um und sagte dann auf Deutsch: “Mein Gott.”

So muss politischer Protest aussehen

(Axel) So muss politischer Protest aussehen, denn sonst guckt ja keiner hin, denkt sich Spiegel Online und zeigt ein paar spärlich bekleidete Aktivistinnen aus Kiew, die sich im Schlamm wälzen, um damit gegen die demnächst in der Ukraine stattfindenden Neuwahlen zu protestieren.
Wer diesen hochbrisanten Film sehen möchte, der klicke auf das Bild. Aber Vorsicht: das ist nichts für schwache Nerven.

Kolumne: Über Schurkenblogs

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat mich vorhin umarmt, ziemlich lange und innig sogar, ich glaube aber, dass es ihm ein bisschen unangenehm war, er musste sich bestimmt überwinden. In der Öffentlichkeit umarmen sich Männer eigentlich nur, wenn sie nicht mehr nüchtern sind oder im Fußballstadion stehen. Meistens kommt beides zusammen. Die Ausnahmen sind älter und haben einen Bauch als Panzer. Oleg aber ist sportlich. Er war also sehr tapfer.

„Und wegen der Nudeln rückst du mir so auf die Pelle?”, fragte er danach.

20 Blogger, 20 Meinungen

Wir hatten uns am Strand verabredet, ich brauchte Ruhe und wollte das Rauschen der Wellen hören. Ich bin mit den Nerven runter, seit ich mich zu lange mit der Blogosphäre beschäftigt habe, es ist alles zu viel für mich. Bei jedem Thema, das ich im Internet nachschlage, stoße ich auf mindestens 20 Meinungen und 20 Blogger, manchmal gibt es sogar mehr Meinungen als Blogger. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sich die Stimmen sinnvoll ergänzen, aber vielleicht darf man das auch nicht erwarten, wenn Oberlehrer aufeinander treffen. Der eine manipuliert, der andere kopiert, noch ein anderer spioniert, recherchiert und ejakuliert, was der eine manipuliert und der andere kopiert. Solche Sachen lese ich jeden Tag. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch glauben kann.

Ich bin beim Arzt gewesen, ich wollte mich krankschreiben lassen und den Schein bei WordPress Deutschland abgeben, ich kann ja nicht einfach unentschuldigt am Arbeitsplatz fehlen – jedenfalls nicht länger als drei Tage. Ich kenne doch die Kollegen. Nehmen wir nur mal Axel. Klar, Axel ist ein feiner Kerl, er hat Oleg bei der Bayernwahl geholfen, er vergisst nie meinen Geburtstag und hilft mir auch, wenn ich die Technik nicht begreife. Trotzdem würde er bei den Kollegen rumerzählen: „Unser Kolumnist in Odessa macht gerade blau, also, wenn ihr mich fragt: Der ist ausgebrannt, klassisches Burn-out-Syndrom, der bringt’s nicht mehr. Bis zur Rente schafft es unser Sensibelchen nie und nimmer.”

Ärzte und die Ehrfurcht vor Durchfall

Ich habe dem Arzt in Odessa natürlich nichts von den Nerven erzählt. Er ist Allgemeinmediziner. Männern dieser Fachrichtung kommt man besser nicht mit den Nerven. Einem Allgemeinarzt hatte ich vor vielen Jahren etwas von Schlafstörungen erzählt, um eine Krankschreibung für die Prüfung zu erhalten. „Sie müssen die Augen zumachen”, hatte er gesagt und gelacht. Seitdem habe ich Durchfall, wenn ich eigentlich etwas mit den Nerven habe. Allgemeinmediziner haben eine tiefe Ehrfurcht vor dem Durchfall, ich glaube, sie diagnostizieren nichts so gern wie Magen-Darm-Infektionen.

Mein Arzt sagte: „Sie haben sich irgendwo was eingefangen, eine Magen-Darm-Infektion ist unangenehm. Aber ich kann Sie trotzdem nicht krankschreiben, Sie sind kein Ukrainer.” Kaum hatte ich die Praxis verlassen, rief ich Oleg an und bat ihn, mit mir am Strand zu spazieren.

„Oleg, du weißt, ich bin Pazifist”, sagte ich und warf einen Stein ins Schwarze Meer. Plopp. „Ich habe den Dienst an der Waffe verweigert, bin aber auch nicht ausgemustert worden, wie mancher vermutet, wenn er mich sieht. Ich respektiere die Meinungsfreiheit, obschon sie bisweilen Gesülze produziert, ich verurteile Zensur und lasse mich auch beschimpfen, wenn ich so jemanden befriedigen kann. Das Internet ist eine tolle Errungenschaft. Sie bricht die Meinungshoheit einer Clique von Journalisten.”
„Komm zur Sache, Kolumnist”, sagte Oleg.
„Mein Pazifismus stößt an Grenzen. Schurkenblogs müssen besetzt werden. Wenn ich die Macht hätte, würde ich den Einmarsch befehlen. ”
„Wenn die Schurken in Odessa sind, könnte ich vielleicht was machen. Was brauchst du?”
“Humor”, sagte ich. “Wenigstens Selbstironie sollte der Sünder haben – also jedermann. Stammt von Wilhelm Busch.”
“Die Kunst des Zitierens ist die Kunst derer, welche unfähig sind, selbst nachzudenken”, sagte Oleg. “Voltaire.”

Der Nudels Kern

Ich habe Oleg erzählt, was geschähe, wenn ich an dieser Stelle schriebe, Nudeln seien das scheußlichste Gericht der Welt, ganz gleich, auf welche Weise man sie esse. Spätestens am nächsten Tag, vermutlich aber schon früher, würde mich der Blogger von http://der-nudels-kern.de mehr als al dente kochen und mir vorwerfen, dass die Wahrheit viel komplizierter sei: „Es gibt nicht die Nudel.” Die einzige Möglichkeit, angemessen zu reagieren, wäre Schweigen. Nichts wäre verheerender als der Kommentar: „Ich schreibe nun mal nicht für Nudelisten, sondern für Menschen.” Eine solche Verteidigung würde eine Diskussion auslösen, an deren Ende ich den Spitznamen „Ulknudel” verliehen bekäme und fortan ein Lieblingsfeind im Blog wäre. Würde ich mich zwei Wochen später in irgendeiner Form, vielleicht nur am Rande, über Strudel äußern, stünde Minuten später im Nudel-Blog: „Guckt mal, Ulknudel, äußert sich heute über Strudel.”

Dann umarmte mich Oleg.

„Du brauchst dringend Urlaub, Kolumnist”, sagte er. „Ich empfehle eine halbwegs einsame Insel, auf der es keine Nudeln gibt.”
„Was hältst du von Rügen?”, fragte ich.
„Keine Nudeln?”
„Ich glaube, keine Nudeln.”
“Dann fahren wir morgen los.”
“Du kommst mit, Oleg?”
“Nein, nein, du setzt mich bei Axel ab. Wir müssen doch die Bayernwahl auswerten”, sagte er. “Lass uns deinen Kolumnistenklamottenkoffer packen. Ich borge mir alles von Axel.”

Die Angst der großen Spieler

ODESSA, URKAINE Ich habe Stefan Chrobot am Rande der ersten deutsch-ukrainischen Partnerstädtekonferenz in Odessa gefragt, wie er die Krise im Land bewertet. Der Chef der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew – offizieller Titel: Leiter des Regionalbüros für die Ukraine und Weißrussland – schaute zunächst, als sei meine Frage ein bisschen überflüssig. Versucht man sich zu erinnern, wann die Ukraine nicht in der Krise gewesen ist, fällt einem ja auch nicht viel ein. Sie ist ein Dauerzustand. Und auch Chrobot ist krisenerprobt. Vor fast dreieinhalb Jahren ist er als Leiter der Ebert-Stiftung von Bangkok nach Kiew gewechselt. Im April 2008 musste er verkünden, dass man sich aus Weißrussland zurückziehe. Dieses Büro im Reich des Diktaturs Aleksander Lukaschenko war ein Ort der Zuflucht für Regimekritiker und die einzige Vertretung einer ausländischen politischen Stiftung. Der Abschied aus Minsk musste trotzdem sein, um das Leben der Mitarbeiter nicht zu gefährden, wie Chrobot damals sagte. 

Vor einer Woche hat Präsident Wiktor Juschtschenko das Kiewer Parlament aufgelöst, nachdem die Koalition von Unsere Ukraine und dem Block Julia Timoschenko am Georgienkonflikt und dem Umgang mit Russland zerbrochen war. Es wären die dritten Wahlen in drei Jahren. Ob das Parlament die Gesetze verabschiedet, die Juschtschenkos Erlass stützen, scheint offen zu sein. Es ist möglich, dass Abgeordnete über Parteien hinweg die Wahl verhindern wollen, und die ersten Politiker – auch von der Präsidentenpartei Unsere Ukraine – haben ein Nein gegen Juschtschenko bereits angekündigt. Sogar das Verfassungsgericht als Instanz, die Einspruch erhebt, wird ins Spiel gebracht.

“Viele Abgeordnete haben noch kein Rückfluss an Rendite”, sagt Chrobot. Sie hätten, vor nicht einmal einem Jahr gewählt, viel investiert – nicht nur in den Wahlkampf. Listenplätze werden oft verkauft. “Dieses Geld ist noch nicht zurückgeflossen.” In der Ukraine ringen Politiker – mehr als anderswo, zumindest ungenierter – um Einfluss, um Geld und Geschäfte. Die Bereitschaft, Kompromisse zum Wohle des Landes zu schließen, ist kaum ausgeprägt. “Das ist besorgniserregend.” Abgeordnete sind bisweilen schwerreiche Unternehmer, von denen jeder weiß, dass sie nicht im Geringsten das Volk vertreten – oder nur dann, wenn sich dies mit eigenen Interessen vereinbaren lässt. Da sich die Akteure allerdings schon seit Jahren oder Jahrzehnten kennten, bescheinigt Chrobot diesem System trotzdem Stabilität.

Für neuen Zusammenhalt der Zerstrittenen könnte die Weltfinanzkrise sorgen. Anzeichen gibt es, dass sie die Ukraine erreicht: Der Aktienmarkt ist zwischenzeitlich um 70 Prozent eingebrochen, die ersten Banken sind pleite, vor anderen bilden sich Schlangen, weil die Kunden Erspartes abholen, um die stürzende Griwna in steigende Dollar umzutauschen. Manche Automaten spucken nichts mehr aus. “Der Markt ist nicht so geschützt”, sagt Chrobot. Wie es weitergehe, hänge davon ab, wie die Finanzkrise im Rest der Welt gemeistert werde. Sollten die Investoren und Spekulanten aus Europa, Amerika und Russland keine Kredite mehr bekommen, wären viele Vorhaben in der Ukraine gefährdet: vor allem die riesigen und hässlichen Appartmenttürme, die zwischen Kiew und Odessa in den Himmel wachsen.

Chrobot glaubt, das eine existenzielle Not die “großen Spieler” in der ukrainischen Politik zwingen würde, wieder verstärkt zusammenzuarbeiten und dem nationalen Interesse zu dienen. Allerdings müsse die Krise  den persönlichen Besitz bedrohen. “Wenn es nur um nationale Interessen geht, wird das nichts.”

Übrigens: Über die erste deutsch-ukrainische Städtepartnerschaftskonferenz berichte ich nichts; das war mir inhaltlich ein bisschen zu dünn. Der Chronistenpflicht halber bringe ich drei Bilder.

Der neue deutscher Botschafter in Kiew: Hans-Jürgen Heimsoeth (l.) und Odessas Oberbürgermeister Eduard Gurvits
Heimsoeths Vorgänger in Kiew: Ex-Botschafter Eberhard Heyken, heute Vorstandsmitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums, Magdeburg
Gefragter Mann: der Botschafter zu Besuch in Odessa
Gefragter Mann: der Botschafter zu Besuch in Odessa

Bauer vs. Intelligenzija

Markt2
Stadt Kowel, Mai 2008

Wenn man den durchschnittlichen Bauern in der Ukraine nach seiner Nationalität fragt, wird er antworten, er sei griechisch-orthodox; wenn man ihn drängen würde zu sagen, ob er ein Großrusse, ein Pole oder ein Ukrainer sei, wird er wohl antworten, er sei ein Bauer; und wenn man darauf besteht zu erfahren, welche Sprache er spricht, wird er sagen, dass er “die Sprache von hier” spricht. Vielleicht könnte man ihn dazu bringen, sich mit einem richtigen Nationsnamen zu bezeichnen und zu sagen, er sei “russki”, doch das wäre kaum eine Vorentscheidung der Frage nach einer Beziehung zur Ukraine; er denkt über Nationalität einfach nicht in den Begriffen, die der Intelligenzija vertraut sind. Wenn man also herausfinden will, welchem Staat er gerne angehören möchte – ob er von einer allrussischen oder einer besonderen ukrainischen Regierung regiert werden möchte -, wird man erfahren, dass seiner Meinung nach alle Regierungen eine Landplage seien und dass es das beste wäre, wenn das “christliche Bauernvolk” sich selbst überlassen bliebe.

Britischer Diplomat, 1918

zitiert nach Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes, Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, S. 92.

Kolumne: Alles bleibt anders

ODESSA, UKRAINE Bisweilen wünsche ich mir, ich wäre ein bisschen wie mein Freund Oleg. Er ist lebenstüchtig, was auch erklärt, warum die Frauen auf ihn stehen und auf mich nur zukommen, wenn sie seine Telefonnummer brauchen. Frauen mögen Macher, die nach zehn Flaschen Bier und zehn Schnäpsen lallend in den Flur fallen und trotzdem ein Loch in den Putz bohren, auf das sich jeder Dübel freut. Ich würde, schon nach vier Flaschen Bier und vier Schnäpsen, an der Wohnungstür den Schlüssel abbrechen; bohren würde der Mann vom Notdienst. Darum betrinke ich mich, wenn ich es einrichten kann, nur zu Hause und verstecke vor dem ersten Schluck den Schlüssel vom Bad. Ich will nie wieder in der Wanne schlafen müssen. Eine Nacht mit einem Traum, in dem Uwe Barschel erscheint, reicht mir. (Es war kein Selbstmord.)

Einsatz neben Odessas Büchermarkt, Ende September 2008

Als Oleg und ich gestern zum Strand fahren wollten, stand vor meinem Auto ein blauer Hyundai. Mein Plan war: warten. Zuparker halten sich fast immer in der Nähe auf und kehren schnell zurück. “Google”, flüsterte ich vor mich hin, “ungefähr 400 Treffer für Zuparker, für Falschparker sogar ungefähr 97700, kranke Welt.” Das Flüstern beruhigte mich augenblicklich.
„Und, Kolumnist, wie geht’s weiter?”, fragte Oleg.
„Wir warten. Hast du eine bessere Idee?”
Oleg sah sich um, trat dem Hyundai gegen das rechte Vorderrad und löste die Alarmanlage aus. Dann hockte er sich zu mir, während der Hyundai jaulte, und sagte: „Jetzt können wir warten.” Vierzig Sekunden später eilte ein Mann herbei, legte demütig zwei Hände auf die Brust und fuhr davon.
“Danke, Oleg.”
“Gern geschehen.”

Kein Bock auf Kolumnistencamping

Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Oleg und ich gemeinsam ein Haus bauen würden. Ich wäre – vor dem ersten Spatenstich – ausschließlich damit beschäftigt, Kacheln für die Küche auszusuchen. Oleg würde an Zement denken – und an den Spaten natürlich.
“Oleg, versprich mir, dass wir nie ein Haus bauen werden”, sagte ich.
“Mit dir würde ich nicht mal zelten”, sagte Oleg. “Kolumnistencamping ist nichts für mich.”

Manchmal habe ich Angst, dass mein Freund sein Revier verlieren könnte, es geschieht nämlich Seltsames. Überall in Odessa werden die Bäume beschnitten. Noch im Juli hatte ein nächtlicher Sturm die schönen und üppigen Kastanien und Akazien umgerissen und auf Autos gezerrt. Es wird auch sehr viel abgeschleppt, ich sehe neuerdings mehr schwebende Hyundai als schlafende Hunde.

Strand Arkadia in Odessa, März 2008
Strand Arkadia in Odessa, März 2008

Überdies hat das Parlament in Kiew gerade die Strafen für Verstöße im Verkehr deutlich erhöht. Im Auto ohne Freisprecheinrichtung zu telefonieren kostet bis zu 850 Griwen, also fast 120 Euro. Bislang zahlte man nur seine Telefoneinheiten. Wer eine rote Ampel übersieht, kann wählen: 510 bis 680 Griwen oder 30 bis 40 Stunden gemeinnützige Arbeit. Bislang war dieses Vergehen ein Schnäppchen, vier Schachteln Zigaretten waren teurer.

Dass die Polizisten dank der höheren Strafen auch mehr Bestechungsgeld bekommen, wie die Zeitungen vermelden, stört mich nicht. Das ist in meinen Augen Mitarbeiterbeteiligung und motiviert doch, zumal die neue Härte bereits Wirkung zeigt. Heute Morgen, Punkt halb neun, haben zwei Autofahrer die Rotphase an der Ecke Jekaterinskaja und Troizkaja nicht ignoriert. Sie nutzten die Zeit effektiv und prügelten sich. Ich halte mich als Zeuge bereit, sage aber an dieser Stelle gleich: Ich weiß nicht, wer angefangen hat.

Der Arzt im Hausmeisterkittel

“Halt mal kurz an”, sagte Oleg gestern auf dem Weg zum Strand. “Da ist irgendwas passiert.”
Wir stiegen aus und sahen auf dem Bürgersteig einen Ohnmächtigen. Sein Gesicht war schon ein bisschen gelb. Fünf Männer stellten Diagnosen. Alkohol als Ursache der Ohnmacht wurde ausgeschlossen. Man nahm sich wirklich sehr viel Zeit für den Patienten.
“Ist denn irgendjemand in dieser netten Runde Arzt?”, fragte Oleg nach einer Weile. Die Blicke der fünf Männer wanderten zu mir, wahrscheinlich weil ich als einziger eine Brille trug.
“Ach, der ist nur Kolumnist”, sagte Oleg. Es folgte ein lautes Gelächter. Oleg lieh sich mein Telefon und rief einen Arzt.

Nach zehn Minuten kam der Krankenwagen. Ein Mann brachte eine Trage und steckte sich eine Zigarette an. Er trug einen Hausmeisterkittel. Nachdem er aufgeraucht hatte, bat er Oleg und mich, den Ohnmächtigen auf die Trage zu heben. Zu dritt brachten wir ihn in den Krankenwagen. Darin war nichts: keine medizinische Technik, keine Sauerstoffanlage, keine Absaugpumpe, kein Defibrillator, nicht mal ein Verbandskasten.

“Sind Sie Arzt?”, fragte ich.
“Sehe ich so aus?”, fragte der Mann zurück und rieb sich die Hände an seinem Hausmeisterkittel, holte aus der Brusttasche eine Zigarette, drehte dem bewusstlosen Gelben den Rücken zu, rauchte und fragte, was ich in Odessa machte, erzählte, dass seine Kinder auch viel im Internet unterwegs seien und in meinem Blog kommentieren könnten, kramte einen Kugelschreiber hervor und notierte sich meine Domain auf einem alten Kassenzettel.
“Ich muss los, hat mich gefreut”, sagte er und kletterte, eine frisch entzündete Zigarette zwischen den Lippen, in seinen Krankenwagen.

“Kolumnist, bleib bei deinen Streichen”, sagte Oleg am Strand. “Und mach dir um mich keine Sorgen. Erstens werden die Bäumen in jedem Herbst geschnitten. Und wie du vielleicht gesehen hast, liegen die Äste, Zweige und Blätter jetzt auch schon eine Woche herum. Zweitens wird viel abgeschleppt, weil wahrscheinlich irgendein Politiker in der Stadt ein Abschleppunternehmen aufgemacht hat.”
“Und was ist mit den Strafen für Raser?”, fragte ich.
“Ich nehme an, dass einige Politikersöhne gerade eine Ausbildung zum Polizisten machen.”

Präsident löst Parlament auf

ODESSA, UKRAINE Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko hat  das Parlament aufgelöst und vorgezogene Wahlen verkündet. Schuld am Ende der prowestlichen Regierung ist für Juschtschenko Premierministerin Julia Timoschenko, wie er am Abend in einer Fernsehansprache – etwas verklausuliert – sagte.

“I am deeply convinced that the democratic coalition was ruined by one thing – the ambition of one person, the hunger for power … and the dominance of personal interests over national ones.” Mehr

Grenzenlose Liebe

ODESSA, UKRAINE Irina Jewdokimowa aus Sankt Petersburg lebt seit drei Jahren in einer deutschen Kleinstadt. Angekommen ist sie nie. „Ich fühle mich sehr fremd hier”, erzählt sie. “Ich habe seit Beginn meiner Ehe Heimweh.” Die russische Großfamilie fehlt ihr. In Sankt Petersburg hat die Kauffrau in einer Bank gearbeitet, jetzt sitzt sie zu Hause, weil ihre Ausbildung nicht anerkannt wird. Die Chancen, Arbeit zu finden, stünden „eins zu einer Million”. Irina Jewdokimowa hat kurzes, dunkles Haar, aber kein Gesicht. Sie hat es der Kamera abgewendet.

Ausstellungseröffnung im Literaturmuseum Odessa
Ausstellungseröffnung im Literaturmuseum Odessa

„Abenteuer Ehe – Heiratsemigrantinnen gestern und heute” heißt die Wanderausstellung, die am Sonntag – als Teil der Deutschen Kulturwochen in der Ukraine – in Odessas Literaturmuseum eröffnet worden ist. Noch ein bisschen sperriger ist der Titel der Macher: Frauen in der Einen Welt – Zentrum für interkulturelle Frauenalltagsforschung und internationalen Austausch e. V. (FidEW). Bislang ist die Schau, 1998 zum ersten Mal, nur in Deutschland zu sehen gewesen. Jetzt soll sie auch in der Ukraine und später vielleicht in Russland gezeigt werden.

„Abenteuer Ehe” erzählt die Geschichte weiblicher Auswanderer von Theophanu aus Konstantinopel, die 972 nach Rom reiste, um den späteren Kaiser Otto II. zu heiraten, bis in die Gegenwart. Die Besucher sollen erkennen, dass Frauen zu allen Zeiten Heimat gegen Heirat getauscht haben, auch wenn Schlagzeilen und Fernsehreportagen bisweilen unterstellen, es handele sich um ein neues Phänomen. Der Ruf dieser Liebe, die Grenzen überwindet, ist entsprechend schlecht: Männer kaufen sich in Osteuropa und Asien eine Unterwürfige, die sie in Deutschland längst nicht mehr finden; die Frauen sind entweder Opfer und landen im Ehegefängnis oder werden als Täter gehandelt, die den Mann nur ausnehmen wollen. Oder sie gelangen als Prostituierte in die rosa beleuchteten Fleischtheken zwischen Hamburg und Rom. Dass sie sich tatsächlich verlieben und freiwillig heiraten, wird ungern wahrgenommen. „Wir wollen diese Diskriminierung reduzieren”, sagt die Soziologin Meral Akkent vom Verein mit dem langen Namen. „Wir erhoffen uns einen Aha-Effekt.”

Kriegsbräute als deutscher Exportschlager

Zwischen 1850 und 1900 suchten mehr als fünf Millionen Deutsche anderswo ihr Glück. Keineswegs nur Männer zog es in die Welt hinaus, mehr als 40 Prozent der Auswanderer waren Frauen. Wenngleich in Australien, Afrika und Mittel- und Südamerika deutsche Kolonien entstanden, lebten fortan neun von zehn Deutschen in den USA und holten Freunde, Verwandte und Nachbarn nach. Die Sehnsucht nach der Heimat war schon in dieser Zeit ein ständiger Begleiter in der Fremde.

Oftmals abgeschreckt von den selbstbewussten Amerikanerinnen mit ihrem Freiheitsdrang, ließen deutsche Männer zu Hause eine Braut suchen. Sie fanden vor allem Abenteurerinnen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA das begehrte Ziel deutscher Frauen. Sie folgten, als Amibräute nicht gerade freundlich verabschiedet, Besatzern und wurden als Kriegsbräute auch nicht gerade freundlich empfangen, weil sie den amerikanischen Frauen die siegreichen Soldaten nahmen.

Vieles, was die in der Ausstellung Porträtierten ein halbes Jahrhundert später erzählen, klingt deshalb vertraut. „Ich werde im Innern immer eine Ukrainerin bleiben”, sagt Natasha Shevchenko. Dabei ist ihre Geschichte eine der besseren. Die Frau mit dem blonden Haar und den braunen Augen besuchte eine ehemalige Schulfreundin in Deutschland, als sie ein Mann zum Bier einlud. Mit ihm wechselte sie E-Mails, bis er sie eines Tages den Verwandten vorstellte. „Du bist schön”, sagte die Oma des jungen Deutschen.

Meral Akkent
Meral Akkent vom Verein Frauen in der Einen Welt - Zentrum für interkulturelle Frauenalltagsforschung und internationalen Austausch

Andere Frauen haben nur einen Vornamen oder lassen sich erst gar nicht fotografieren. Aus Angst, Vater und Mutter könnten erfahren, wie unglücklich und traurig die Tochter in Deutschland sei, hätten sie auf ein Stück Anonymität bestanden, sagt Meral Akkent.

Ewige Liebe mit dem Rucksacktouristen

Die Heiratsemigration, meint die Soziologin, habe sich über die Jahrhunderte nicht verändert. Damals wie heute suchten Auswanderinnen wirtschaftliche und politische Sicherheit, hätten sich verliebt oder seien einfach abenteuerlustig. „Frauen lassen sich auf Abenteuer übrigens eher ein als Männer”, sagt Akkent. Man muss das erfragen, weil die Männer nur passive Figuren sind in dieser Schau. Über sie erfährt der Besucher alles aus zweiter Hand: von verliebten, verheirateten und verbitterten Frauen. Sie selbst kommen nicht zu Wort.

Die Ausstellung – das ist ihre Leistung – vergisst niemanden. Sie lässt Dalisay Braun erzählen, die für Konrad die Philippinen verließ und bald erfuhr, dass sie seine sechste Frau ist. Besser erging es ihrer Landsfrau Ana, in die sich Mitte der siebziger Jahre ein deutscher Rucksacktourist verliebte. Die Krankenschwester aus Manila wagte erst 1980 die Heirat. Heute sagt sie: „Er war meine erste Liebe und mein erster Mann…bis heute.”

Das große Leiden der Porträtierten ist die Einsamkeit. Sie vermissen die Freunde, die Familie und die Geborgenheit, die sie in der Heimat erlebt haben. Die Macher der Schau deuten zumindest an, dass sich Gesellschaft und Staat mehr kümmern müssten. “Es gibt keine adäquate soziale Hilfe für diese Frauen in Deutschland”, sagt Akkent. “Sprachkurse allein reichen nicht.”

Die Ausstellung schenkt dem abstrakten Thema der Emigration Gesichter und liefert so einprägsame wie intime und oft bestürzende Zitate. Zugleich jedoch bleibt sie, sich den Einzelschicksalen ganz hingebend, an der Oberfläche, weil die Lebensberichte, so ehrlich sie formuliert werden, ohne die Zügel der Wissenschaft davon galoppieren. Am Ende klingen sie erschreckend austauschbar. So bleibt auch offen, ob die Ukrainerin Natasha Shevchenko oder Irina Jewdokimowa aus Sankt Petersburg stellvertretend für viele andere Frauen stehen. Man darf das vermuten, erfährt es allerdings nicht.

NicoleWas bedeutet es etwa, wenn Nicole Borisyuk, die als Deutsche einen Ukrainer geheiratet hat und in Odessa lebt, erzählt, sie habe nie Heimweh? Ist die umgekehrte Auswanderung – aus dem Westen in den Osten – leichter? Und wenn das so ist, woran liegt das? Hat der Deutsche weniger Bindung an die Heimat? Ist er, als Mitglied einer modernen Gesellschaft, die Flexibilität verlangt, an Aufbrüche und Abschiede gewöhnt? Oder kann er, wohlhabend und selbstbewusst, mehr Rechte verlangen und freier leben? Mit solchen Fragen lässt einen die Schau allein.

„Abenteuer Ehe – Heiratsmigrantinnen gestern und heute” (deutsch und russisch), Literaturmuseum Odessa, Lanzheronskaya 2, 5. bis 30. Oktober, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr

Alles musste raus

Das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit 1991 war für die Ukraine eine verlorene Zeit. Die Wirtschaft brach ohne die Absatzmärkte im Osten zusammen, der Staat versagte, betrog seine Bürger und verkaufte seine profitabelsten Betriebe zu Schnäppchenpreisen an Oligarchen. Bis heute leidet das Land an den Folgen. Eine Geschichte über den skandalösen Räumungsverkauf.

Die Präsidenten der Ukraine, v.l.: Wiktor Juschtschenko (seit 2005), Leonid Kutschma (1994-2005), Leonid Krawtschuk (1991-1994)
Die Präsidenten der Ukraine, v.l.: Wiktor Juschtschenko (seit 2005), Leonid Kutschma (1994-2005), Leonid Krawtschuk (1991-1994)

„The Great Giveaway Revisited”, titelt die Kyiv Post in ihrer jüngsten Ausgabe und schickt ihre Leser zurück in die neunziger Jahre, in jene Zeit, als der ukrainische Staat sein Eigentum für immer verscherbelt hat. Den „schrecklichen Preis” für den Ausverkauf zahle das Land bis heute, schreibt Mark Rachkevych. Wer will, kann seinen Text als Kriminalstück lesen, genug zwielichtige Personen lässt der Autor jedenfalls auftreten: vor allem Politiker und Unternehmer, wobei die Hauptfiguren oft beides zugleich sind.

Auf dem Titelfoto der Kyiv Post lodern Flammen aus dem Bauch nicht irgendeines Stahlunternehmens. Kriworischstal gehörte lange dem Staat, dann für kurze Zeit zwei Clan-Brüdern – einem Multimilliardär, der seine Karriere als „Gewaltunternehmer” begonnen hatte, und einem Schwiegersohn mit guten Kontakten nach oben -, schließlich wieder dem Staat. Später mehr.

Schlimmer als unter den Kommunisten nach Stalin

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hatten westliche Experten die Privatisierung der Staatsbetriebe als Abschied von der Sowjetära und als Ankunft in der Marktwirtschaft begrüßt. Doch der Aufschwung nach dem Niedergang des Sozialismus war ein Privileg Weniger. Bis Mitte der neunziger Jahre wurde in der Ukraine vielerorts – auch in Großstädten wie Odessa – gar gehungert und gefroren. Die Inflation stieg von Sommer 1993 bis Mitte 1994 auf 1000 Prozent.

„Der Durchschnittslohn eines Fabrikarbeiters reicht nicht mehr für den Mindestbedarf an Lebensmitteln”, schrieb der Spiegel im Juni 1994. „Ins Krankenhaus muss ein Patient Essen, Bettwäsche, Medizin und gleich auch noch den Röntgenfilm selbst mitbringen. So schlimm war es nicht einmal unter den Kommunisten nach Stalin.” Im Buch „Ukraine” des Historikers Ernst Lüdemann heißt es über diese Zeit: „Viele Familien, auch kinderreiche, hausten in so beengten Verhältnissen, wie sie in Deutschland zuletzt in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg einige Jahre herrschten.”

Der noch heute ungerecht verteilte Wohlstand und die riesigen Einkommensunterschiede sind ein Überbleibsel dieser Krisenjahre. Die Ukraine hat mehr Milliardäre pro Einwohner als Russland, das Land mit den drittmeisten Milliardären der Welt nach den USA und Deutschland. Oligarchen beherrschen die wichtigsten Betriebe und besitzen somit auch politische Macht.

Ein Name fällt dabei immer wieder: Rinat Achmetow. Er ist mit einem Vermögen von – aktueller Stand – 31 Milliarden Dollar der reichste Mann der Ukraine. In den neunziger Jahren gründete er eine Bank, machte Unternehmen über Kredite von sich abhängig und kaufte Staatsbetriebe. Als Spielzeug und Nachweis seiner Seriosität leistet er sich den Fußballklub Schachtjor Donezk im Osten des Landes. Im Skandal-Wahlkampf von 2004 soll er den pro-russischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch unterstützt haben, für dessen Partei der Regionen er auch im Kiewer Parlament sitzt. Achmetow gehören – unter anderem – der Fernsehsender Ukraina und die Zeitung Segodnya. Für den Spiegel war er 2005 „der mächtigste Mann” des Landes.

Das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit war für die Ukraine eine verlorene Zeit. Die Wirtschaft brach ohne die Absatzmärkte im Osten zusammen, der Staat versagte und ließ seine Bürger allein. Blühende Landschaften gab es – es waren allerdings Sumpfwiesen der Korruption. Dass westliche Errungenschaften – ein funktionierendes Rechtssystem, freie Medien, staatliche Fürsorge, subventionierte Kultur, ehrenamtliches Engagement – bis heute fehlen und nicht geschätzt werden, lässt sich so teilweise erklären. Der schlechte Ruf von Politikern ist ein Produkt von damals, als die Herrschenden die Korruption nicht verfolgten, sondern förderten und von ihr profitierten.

So setzte sich der ehemalige Ministerpräsident Juchym Swjahilskyj im November 1994 nach Israel ab, nachdem er Hunderte Millionen Dollar aus der Staatskasse geplündert hatte. Im Februar 1997 kehrte er zurück, da gegen ihn keine Anklage erhoben worden war. Er wurde wieder Direktor der wichtigsten Kohlegrube im Dombass und saß wie vor seiner Flucht als Abgeordneter im Parlament.

Der große Deal des Hütchenspielers

Im Juni 2004 wurde Kriworischstal, das größte und profitabelste Stahlunternehmen des Landes, für 800 Millionen Dollar verkauft, obwohl internationale Investoren fast das Doppelte geboten hatten. Bis heute gilt dieser Deal als eines der schlimmsten Beispiele für Korruption und Vetternwirtschaft. Die neuen Besitzer des Konzerns waren Achmetow und Viktor Pinchuk. Achmetov hatte seine Karriere als „Gewaltunternehmer” in Donezk begonnen, was konkreter bedeutet: Er erpresste Schutzgeld, boxte und betrog als Hütchenspieler. Achmetow steuert den „Donezker Clan”.

Pinchuk wiederum, Anführer des “Dnjepropetrowsker Clans”, ist mit neun Milliarden Dollar Vermögen der zweitreichste Mann des Landes und Schwiegersohn von Leonid Kutschma. Als Kriworischstal veräußert wurde, saß Kutschma auf einem nicht ganz unwichtigen Posten: Er war Präsident der Ukraine – und ihr Diktator.

Nach der Orangen Revolution im Winter 2004 und dem demokratischen Machtwechsel zu Präsident Wiktor Juschtschenko erklärte ein Kiewer Gericht das Geschäft für ungültig. Der Stahlkonzern wurde abermals verkauft, diesmal für 4,8 Milliarden Dollar, und brachte der Ukraine auf einen Schlag mehr Geld als alle früheren Privatisierungen zusammen. Für kurze Zeit schien ein großes Reinemachen möglich. Die neue Ministerpräsidentin Julia Timoscheno versprach, sie werde den Verkauf von 3000 Staatsunternehmen überprüfen. Auch sechs Konzerne, die Achmetow erworben hatte, standen auf ihrer Liste, die es vielleicht tatsächlich gab.

Julia Timoschenko
Julia Timoschenko

Dass ausgerechnet die einstige „Gasprinzessin” die Betrügereien aufdecken wollte, hatte Charme. Der Buchautor Matthew Brzezinski nannte sie die „Elf-Milliarden-Dollar-Frau”, weil die Oligarchin Timoschenko – damals in den wilden neunziger Jahren natürlich – fast ein Viertel des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts kontrolliert habe. Zudem stand sie Pawel Lasarenko nahe. Der frühere Ministerpräsident, der in seiner Amtszeit (1996 bis 1997) 200 Millionen Dollar veruntreut haben soll, wurde 2006 in den USA zu neun Jahren Haft verurteilt. Die Weltbank zählt ihn zu den zehn besonders korrumpierten Menschen der Welt.

“Die Elf-Milliarden-Dollar-Frau” als Reinigungskraft

Zu einer Reprivatisierungswelle ist es nicht gekommen. Der Machtkampf zwischen Timoschenko und Präsident Juschtschenko, der schon Monate nach der Revolution ausbrach und bis heute andauert, hat die Aufklärung verhindert. Geblieben sind auch viele Zeugen und Akteure dieser Skandalzeit. Bisweilen dienen sie dem Staat in ziemlich hohen Positionen.

Wie viele Milliarden Dollar der ukrainische Staat bei der Trennung von seinem Besitz verbrannt hat, ist nicht bekannt. Auch Mark Rachkevych von der Kyiv Post weiß es nicht. Er schreibt, genauso ungewiss sei, um wie viel besser es den Ukrainern heute ginge, wenn die wichtigsten nationalen Unternehmen transparent verkauft worden wären. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow nennt das, was der Westen für Kiewer Chaos hält, “ein gut kontrolliertes Schachspiel: Die Politiker sind die Figuren, die Oligarchen die Spieler”. Kurkow, ein eleganter Zyniker, sieht in Achmetow und Pinchuk sogar Stützen der Ukraine, weil Oligarchen wie sie “Stabilität für ihre Geschäfte brauchen. Solange die Ökonomie in deren Händen liegt, wird das politische Theater im Lande keine ernsthaften Auswirkungen haben”.