Ich weiß nicht, ob irgendjemand die Überschrift kapiert. Die Blumen an der Motorhaube sind übrigens aus Plastik.
Und wenn Sie jetzt auch Lust aufs Heiraten haben, lesen Sie doch bitte ein bisschen in diesem Forum (Achtung: Männer-Link!), wie Sie ohne Traumfigur eine Prinzessin finden. Danke für den Hinweis, Nataliya!
ODESSA, UKRAINE Heute hat mich Oleg angerufen. Er war mal wieder extrem aufgeregt, wie er das fast immer ist, wenn er mich anruft. Ich habe so einen Verdacht: Entweder ruft er mich an, um sich aufzuregen, oder er regt sich auf, um mich anzurufen. Zunächst plauderte er ein bisschen über die Hitze in Odessa, dann erzählte er etwas von 23 Klimmzügen an seiner Klimaanlage, wobei ich nicht weiß, ob ich Oleg richtig verstanden habe, irgendwann unterbrach ich ihn und fragte, was er eigentlich wolle.
„Kolumnist, ich hab ‘ne gute Nachricht”, sagte er und machte eine ewige Pause, „’ne verdammt gute Nachricht, ich weiß, wo es Ballpumpen…”
„Mach’s nicht spannend, wo muss ich hin?”
„Lass mich doch ausreden: wo es Ballpumpen gab.”
„Mist. Was ist die gute, verdammt gute Nachricht?”
„Naja, ich habe die letzten zwei bekommen.”
„Toll, dann kannst du mir ja eine Pumpe abgeben”, sagte ich.
„Was bietest du?”
„Hör mal, Oleg, ich bezahle den Preis, den du bezahlt hast, und vielleicht spendiere ich dir noch ein Bier.”
„Vergiss es”, sagte er.
„Wie bitte?”
„Dann behalte ich beide Ballpumpen.”
„Gut, was verlangst du?”, fragte ich. „Sag schon!”
„Zufällig weiß ich, dass der Kolumnist dieses weltberühmte Ketchup…”
„Oleg, das ist gemein. Ich bin durch zwanzig Supermärkte gelaufen, überall in der Stadt.”
„Stell dich nicht so an.”
Im Grunde brauche ich keine Ballpumpe. Ich besitze zwar einen Fußball, er ruht aber seit fünfeinhalb Monaten ungetreten in der Einkaufstüte. Die Ballpumpe ist zum Symbol für Dinge geworden, die ich in Odessa suche, aber nicht finde. Ich habe bislang unter anderem gesucht:
Leselampe mit Klammerhalterung für Rohre und Regale (nicht gefunden, aus Deutschland importiert),
Wiener Würstchen, schmeckend (gefunden und einmal gekauft),
Glühbirnen für die aus Deutschland importierte Leselampe (nicht gefunden, aus Deutschland importiert).
Noch gern erinnere ich mich auch an den Tapeziertisch, den ich als Schreibtisch benutzen wollte, weil mir kein Schreibtisch gefiel, der mir gezeigt wurde. Die Männer, die auf Odessas Märkten Holz zurechtsägen, schauten mich an, als trüge ich ziemlich großes, dickes Brett vor dem Kopf.
„Ich will einen Tapeziertisch”, sagte ich.
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche einen Tisch, um zu tapezieren.”
„Ich verstehe nicht.”
„Egal, ich will den Tapeziertisch sowieso als Schreibtisch benutzen.”
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche eine Holzplatte, die müssten Sie mir sägen, und zwei Böcke, damit die Platte nicht in der Luft schweben muss.”
„Brauchen Sie jetzt einen Schreibtisch oder dieses andere Ding? Und welche Böcke überhaupt? Ich verstehe nicht.”
Als ich mich bei Oleg beklagte, sagte er nur: „Tapeziertische, so was haben wir nicht.”
„Und wie wird bei euch tapeziert?”
„Wir legen die Tapete auf den Boden.”
„Aber der ist doch schmutzig”, sagte ich.
„Herrgott, dann wischt man eben erst den Boden und tapeziert dann.”
Ich werde mich nicht beklagen. Ich habe zuletzt ein paar Wochen in Deutschland gelebt, genauer gesagt: in einer ostdeutschen Kleinstadt mit schlimmer Rasenmäherromantik. Mittag für Mittag zwischen eins und drei, außer natürlich am Wochenende, schoben kurzhaarige Männer in kurzen Unterhemden und kurzen Hosen brummende Ungetüme durch Vorgärten. Nicht nur die Männer, auch die Vorgärten sahen gleich aus: hier ein paar Büsche, dort ein spindeldürres, bulimiekrankes Bäumchen, das kaum Schatten spendet, und ringsum eine akkurate Hecke auf Genitalbereichshöhe. In Deutschland werden sogar Mülltonnen abgeschlossen. Nach meiner Rückkehr habe ich mich gleich wieder ein bisschen in Odessa verliebt.
Ich sehe, wie Männer auf dem Bürgersteig ihr Auto mit einem Schwamm putzen und das Wasser nicht aus einem Schlauch, sondern aus einer alten Wasserflasche holen. Daneben wachsen Gasleitungen aus dem Boden. Ich erfreue mich an der Verkäuferin im Supermarkt, Heldin der Anarchie, die während des größten Kundenansturms vor sich ein Schild mit der Aufschrift „Technische Pause” aufstellt und dann nur einer Beschäftigung nachgeht: Sie versucht nicht einzuschlafen. Ich mache auch wieder Fehler, die ich längst abgestellt hatte. Zum Beispiel rufe ich ein Taxi, um im Regen halbwegs trocken nach Hause zu gelangen, und kriege den Mund nicht mehr zu, wenn die Frau in der Zentrale sagt: „Hören Sie mal, junger Mann, es regnet. Wo soll ich jetzt ein Taxi auftreiben?” Am Strand liegt natürlich noch der Schmutz vom Sommer ’08, wobei ich mich aus gewissen Gründen nicht auf ein Jahrhundert festlege. Ach ja, verziehen sich eigentlich Zimmertüren aller Nationalitäten zwischen Winter und Frühling? Oder ergeht das bloß meinen ukrainischen so?
Nicht einmal der Baulärm stört mich mehr, der mich seit März begleitet. Am Anfang arbeiteten auf dem Hof drei Vierzehnjährige. Ihr Arbeitstag begann um halb eins und endete um acht, was am Wochenende zwangsläufig dazu führte, dass sie hämmerten und stemmten, schleiften und bohrten, während ich Mittagsschlaf machen wollte. Ihre Nachfolger dürften immerhin schon beinahe volljährig sein. Sie fangen noch ein bisschen später an, und wenn ich abends um halb neun frage, ob sie vielleicht Schluss machen könnten, weil meine Kinder schlafen wollten, empfehlen sie mir, deren Tagesablauf einfach umzustellen. Ich habe noch immer keine Ahnung, was sie eigentlich errichten oder vernichten – ich weiß nur, dass ich in den all den Monaten noch nicht einmal eine Wasserwaage oder einen Zollstock gesehen habe. Wahrscheilich würde mich das noch mehr amüsieren, wenn die vielen Steine und Balken, die nach draußen geschafft werden, nicht von dem Teil des Hauses unter meiner Wohnung stammten.
„Was ist nun?”, fragte Oleg. „Kolumnistenketchup gegen Ballpumpe, kommen wir ins Geschäft?”
„Ja.”
„Dann morgen um zehn an der großen Treppe, aber keine miesen Tricks, du kommst allein.”
Lassen Sie sich von dieser so genannten Meldung nicht verrückt machen. Die Fußball-Europameisterschaft 2012 findet definitiv in Polen und der Ukraine statt. Natürlich, es fehlen in der einstigen Sowjetrepublik Stadien, Hotels, ein halbwegs modernes Verkehrssystem, Rechtssicherheit. Vorhanden, und zwar im Überfluss, sind Chaos und Korruption.
Regierungschefin Julia Timoschenko hat versprochen, man würde trotz der wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise „selbst Unmögliches schaffen”, aber jeder Ukrainer weiß: Trau niemals einem Politiker, ob du ihn gewählt hast oder nicht. Besser hofft man zwischen Kiew, Donezk und Odessa auf Michael Platini. Seit seiner etwas dubiosen Wahl zum Präsidenten des europäischen Fußballverbandes (Uefa) 2007 muss sich der Franzose dem Osten und besonders der Ukraine verbunden fühlen.
Im Formtief steckt übrigens auch die deutsche Mannschaft. Zwischen Michael Ballack und Bundestrainer Joachim Löw kriselt es. Werden sich die beiden vertragen? Gewinnt Ballack seinen ersten großen Titel? Und gelingt Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, Kosename Loddar, endlich der Durchbruch als Fußballlehrer?
Interne Papiere aus Platinis Büro und Dokumente des ukrainischen Geheimdienstes, die diesem Blog zugespielt worden sind, verraten, was in den nächsten 1122 Tagen bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels am 9. Juni 2012 geschehen wird. Der Turnierverlauf ist längst beschlossen.
2009
10. Oktober
Moskau + Deutschland spielt gegen Russland in der WM-Qualifikation. Kapitän Ballack wird zur Halbzeit ausgewechselt, weil er friert. Für ihn kommt Toni Kroos. Torsten Frings, Europas begnadetster Ballquerschieber, wurde erst gar nicht nominiert. Mit einem 1:1 qualifiziert sich die Elf von Joachim Löw für Südafrika.
15. Oktober
Straßburg + DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger leidet noch immer unter dem „unglaublichen Demagogen”, als den ihn der Journalist Jens Weinreich im Sommer 2008 bezeichnet hatte. Zwanziger würde gern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen. Auf Rat des DFB-Mediendirektors Harald Stenger kauft er aber die Domain www.doktorspiele.de und gründet ein Blog.
1. Dezember
London/Frankfurt/Bremen + Ballack verkündet per SMS seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Löw und sein Co-Trainer Hans-Dieter Flick wollen ihn zum Weitermachen überreden und schlafen im Auto vor Ballacks Londoner Haus. Sie essen selbst geschmierte Brote und trinken Tee aus der Thermoskanne. Einmal pro Stunde muss Flick zum Klingeln hinaus in die Kälte, er hat den Weg mit Hütchen abgesteckt. Am dritten Tag ruft Ballack die Polizei. Die Trainer werden wegen Wegelagerei und Nötigung festgenommen.
Werder Bremens Edeljoker Torsten Frings ist auch zurückgetreten.
4. Dezember
Kiew + Uefa-Präsident Michel Platini besucht die Hauptstadt. „Wie weit sind die Pläne für die Fanmeile?”, fragt der Franzose. Präsident Wiktor Andrejewitsch Juschtschenko verweist auf Julia Timoschenko. Platini, der achtmächtigste Sportfürst der Welt, ruft die Regierungschefin an. „Michel François, Sie sprechen noch mit dieser Pfeife?”, fragt sie und verspricht: „Ich kümmere mich darum.” Platini fährt erleichtert nach Odessa, wo die schönsten Frauen der Ukraine leben.
14. Dezember
Kiew + Wer gewinnt die Präsidentschaftswahl in der Ukraine? Juschtschenko, seit 2005 im Amt, tritt abermals an, obwohl er in Umfragen weit hinter Timoschenko liegt. Die zwei Helden der Orangen Revolution sind inzwischen schlimmer verfeindet als die Torhüter Uli Stein und Toni Schumacher 1986.
„Sicher gibt es Probleme, aber wir schaffen das”, sagt Timoschenko im Fernsehduell (Einschaltquote 1,5 Prozent).
„Wir schaffen das, aber sicher gibt es Probleme”, sagt Juschtschenko.
„Glauben Sie dem Präsidenten kein Wort.”
Juschtschenkos Berater haben vorab großflächig die Journalisten geschmiert. Die Medien erklären ihn zum Sieger.
2010
17. Januar
Kiew + Juschtschenko erreicht 0,9 Prozent.
3. Februar
Köln + Ballack und Frings besuchen gemeinsam den Trainerlehrgang.
9. März
Kiew + Die neue Präsidentin Timoschenko erklärt die EM zur „Chefsache”.
19. März
Kiew + Wiktor Andrejewitsch Juschtschenko zieht mit seiner amerikanischen Frau Kateryna nach Texas. Er steigt ins Ölgeschäft ein und ändert seinen Namen. Er heißt jetzt Wik A. Jusch.
6. April
Kiew + Lothar Matthäus (49) kündigt bei Kirgisistans Rekordmeister FK Dordoi-Dynamo und unterschreibt einen Vertrag als Coach der Ukraine. Auf seiner ersten Pressekonferenz sagt er, er verbinde mit seinem Amt auch eine politische Mission. Der Rest geht im lauten Gelächter der Journalisten unter.
12. April
Frankfurt + Dr. Theo Zwanziger veröffentlicht seinen ersten, von fünf DFB-Juristen gegengelesenen Blogeintrag und erzählt von einer Radtour in der Eifel.
2. Mai
Austin + Wik A. Jusch kandidiert für den Gouverneursposten von Texas. Er verspricht, den Super Bowl nach Dallas zu holen.
12. Mai
Kiew + Timoschenko erklärt die EM zur „absoluten Chefsache”.
19. Mai
Kiew + Lothar Matthäus hat eine neue Freundin: Larissa (17). „Ich habe schon als Mädchen für ihn geschwärmt”, sagt die Kiewerin „Bild”. Matthäus sagt: „Ich habe die Frau fürs Leben gefunden.”
22. Mai
Austin + Wik A. Jusch wird – gegen die Stimmen der ukrainischen Minderheit – Gouverneur von Texas.
29. Mai
Kiew + Matthäus zieht aus dem Premier Palace Hotel (250 Dollar die Nacht) aus und wohnt künftig bei der Familie seiner Freundin in einem Hochhausblock am Stadtrand. Das Zimmer teilt er sich mit Larissas Brüdern Kolja (5), Dimitrij (8) und Wladimir (12).
9. Juni
Przemysl + Am Grenzübergang stellen Polen und die Ukraine ihr gemeinsames EM-Maskottchen vor. Es heißt Poline. Europas Zoologen rätseln.
12. Juli
Johannesburg/Gelsenkirchen + Nach dem Vorrunden-Aus bei der WM tritt Bundestrainer Löw zurück. Peter Neururer, seit einem Jahr ohne Verein, bewirbt sich als erster um die Nachfolge.
12. Juli
Frankfurt + Peter Neururer wird laut DFB nicht neuer Bundestrainer.
28. August
Kiew + Julia Timoschenko erklärt das Turnier zur „nationalen Angelegenheit”. „Frage nicht, was die EM für dich tun kann, frage, was du für die EM tun kannst”, sagt sie in einem Interview und kündigt Subventionen für Investoren an.
15. November
Kiew + Die Ukraine löst ein Teil ihres Infrastrukturproblems: Für 40 Milliarden Euro wird von Deutschland der Transrapid gekauft. In der Rekordzeit von zwei Monaten soll er die Spielorte Kiew, Lemberg, Dnepropetrowsk und Donezk verbinden. Ukrainische Ingenieure garantieren dies der Präsidentin mit einem Eid.
Dezember 2010
Kiew + Laut Plan soll der 230 Millionen teure Umbau des Olympiastadions in diesem Monat abgeschlossen werden. In Wahrheit hat er noch gar nicht begonnen.
2011
2. Januar
Kiew/Moskau + Ein neuer Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist pünktlich zum neuen Jahr ausgebrochen. Timoschenko bietet Wladimir Putin die EM an, wenn er alle Gasschulden streicht.
4. Januar
Kiew + Politisches Chaos. Die Polizisten streiken aus Protest gegen Timoschenkos Angebot. „Wir freuen uns so auf die EM-Touristen”, sagt ein Sprecher. „Viele Kollege haben sich angesichts der zu erwartenden Einnahmen ein Haus gebaut. Da stehen Existenzen auf dem Spiel.”
5. Januar
Kiew + Auch der Verband der ukrainischen Hütchenspieler, Wahrsager, Taschendiebe, Geldfälscher, Räuber und Bordellbetreiber (VUHWTGRUB) droht mit Konsequenzen.
6. Januar
Austin + Wik A. Jusch trägt einen Cowboyhut, als er im Garten seines Amtssitzes in Austin, Texas, Timoschenko kritisiert: „Ich habe keine Zweifel mehr: Sie ist eine Agentin Moskaus.”
9. Januar
Moskau + Putin lehnt Timoschenkos Angebot ab und schlägt vor, dass die Olympischen Spiele 2014 statt in Sotschi auf der Halbinsel Krim stattfinden. Russland würde der Ukraine auch Schnee unter Weltmarktpreis liefern.
15. Februar
Kiew + Der Transrapid soll in den nächsten Tagen seine Jungfernfahrt haben.
2. März
Berlin + Die deutsche Nationalmannschaft spielt wunderschönen Fußball. Toni Kroos und Mesut Özil sind das neue Traumpaar im Mittelfeld. Der begnadigte Kevin Kuranyi trifft in der EM-Qualifikation, wie er will, er genießt das neue Spielsystem: 2-4-4. Offensivtrainer ist der 44- bis 50-jährige Ghanaer Anthony Yeboah.
21. März
Kiew + Lothar Matthäus feiert seinen 50. Geburtstag im Kreise seiner neuen Familie. Die Schwiegereltern Jurij (38) und Tamara (35) schenken ihm einen Fernseher vom Flohmarkt fürs Kinderzimmer. Auch drei Redakteure und ein Fotograf von „Bild” sind dabei.
15. April
Kiew + Die Transrapidstrecke ist fast fertig.
9. Juni
Kiew + Der Umbau des Olympiastadions, dem Austragungsort des Finales, macht auch ein Jahr vor der EM keine Fortschritte. Die Uefa wartet auf den Spatenstich. Polen zieht aus Protest seinen Botschafter ab.
22. Juni
Johannes B. Kerner kehrt von Sat 1 zurück zum ZDF. Er arbeitet jetzt nur noch drei Tage pro Woche: Montags, mittwochs und freitags moderiert er das Morgen-, Mittags-, Abend- und Nachtmagazin.
10. Juli
Donezk/Dnepropetrowsk + Noch immer gibt es zu wenige Übernachtungsmöglichkeiten. Vor allem in Donezk und Dnepropetrowsk, die kaum von Touristen besucht werden, fehlen Hotels. Der deutsche Unternehmer Jürgen B. A. U. Löwe lässt in beiden Städten straßenweise verfallene Häuser restaurieren. Das Geld leiht er sich von ukrainischen Banken.
15. August
Kiew/Leipzig + Die Bagger kommen endlich ins Olympiastadion. Es wird abgerissen. Leipzig schenkt Kiew, seit 1961 Partnerstadt, sein Zentralstadion. Die Leipziger bemerken das Fehlen erst nach drei Wochen. Als nachträgliche Ablösesumme wechselt der ukrainische Stürmerstar Andrej Schewtschenko (35) vom AC Mailand zum Regionalligisten FC Sachsen Leipzig und verspricht den Aufstieg. Der FC Sachsen – Zuschauerschnitt: 3011 – spielt wieder im Alfred-Kunze-Sportpark im Stadtteil Leutzsch gegen Altona 93, FC Oberneuland, VFC Plauen und Hansa Rostock I.
2. September
Kiew/Frankfurt (Oder) + Matthäus engagiert Witalij Klitschko als Dolmetscher und Spezialtrainer für den Angriff. Klitschko empfiehlt Henry Maske (47), Faustkämpfer im Ruhestand, für die Abwehr, doch der lässt ausrichten, er bereite sich auf sein Comeback vor. „Ich werde gegen Dariusz Michalszewski kämpfen. Es bleibt aber bei diesem einen Kampf.”
19. September
Kiew/Berlin + Lothar Matthäus gründet die Lothar-Matthäus-Ukraine-Stiftung. „Der Westen braucht uns”, ist das Motto. Matthäus wird von Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im Kanzleramt empfangen. Nachher berichtet der Rekordnationalspieler: „Ein Lothar Matthäus hat immer offen seine Meinung gesagt, auch wenn es unbequem war. Der Bundeskanzler versteht mich, er ist ja auch Franke.”
30. September
Odessa + Platini wird zum dritten Mal Vater. Taufpate der kleinen Svetlana ist Matthäus.
2. Oktober
Hamburg + In der Bundesliga ist der Rekord von Gerd Müller – 40 Tore in einer Saison – in Gefahr. Sandro Wagner (HSV) erzielt am 12. Spieltag seinen 16. Treffer.
9. Oktober
Dnepropetrowsk + Platini eröffnet einen Zeltplatz mit Blick auf den Dnepr für 15000 EM-Besucher. Vor Freude weiht er gleich noch eines der drei blauen Dixie-Klos ein und sagt danach: „Hier kann man es aushalten.”
13. November
Kiew + Lothar Matthäus tritt zum russisch-orthodoxen Glauben über.
24. Dezember
Hamburg + Sandro Wagner, Jäger des Müller-Rekords, stolpert über eine heruntergefallene Weihnachtsbaumkugel und fällt bis zum Ende der Rückrunde aus.
2012
4. Januar
Köln + Ballack und Frings bestehen die Trainerprüfung.
12. Februar
Nyon + Um die ukrainischen Innenstädte zu entlasten, will die Uefa Fanmeilen im Grünen und ringt tagelang um ein Konzept. Nach einer Nachtsitzung verkündet Platini schließlich: „Dnepr, Desna und Dnister – wir machen Fanflüsse.”
9. März
Kiew + Lothar Matthäus gerät mehr und mehr in die Kritik. Seine Mannschaft hat die vergangenen drei Freundschaftsspiele verloren: 1:2 gegen Italien, 1:3 in der Schweiz und 1:4 in Turkmenistan.
12. März
Kiew/Krim + Larissa feiert ihren 18. Geburtstag und heiratet Lothar Matthäus. Trauzeugen sind Franz Beckenbauer und ein gewisser Rinat Achmetow, Oligarch, reichster Mann der Ukraine, Präsident des Fußballklubs Schachtjor Donezk, zigfacher Milliardär und Ex-Straßenkämpfer.
„Trainer, brauchst du was?”, fragt Achmetow nach der Trauung.
„Ein Farbfernseher wäre nicht schlecht.”
„Hab gehört, lebst im Kinderzimmer, spricht sich rum, so was.”
„Wie kommen Sie überhaupt auf die Hochzeit?”, fragt Matthäus.
„Das könnte ich dich auch fragen”, sagt Achmetow. „Sagen wir einfach, ohne mich geht nichts in diesem Land, okay?”
„Okay.”
„Schon das mit Platini gehört, Trainer? Ist doch verdammt gut gelaufen für uns.”
13. März
Berlin + „Bild” zitiert Jurij und Tamara mit den Worten: „Er ist unser Traumschwiegersohn.” Die „taz” bringt Lothar und Larissa Matthäus auf der ersten Seite. Larissa trägt ein weißes Hochzeitskleid und sitzt im Kinderwagen mit einem Schnuller im Mund. „Lothar liebt Lolita”, lautet die Schlagzeile. Seine Flitterwochen verbringt das Paar auf der Halbinsel Krim.
14. März
Hamburg + „Der Spiegel” findet in Ghana Dokumente, die belegen, dass Antony Yeboah schon 68 Jahre alt ist.
16. März
Kiew + Der Manager von Dynamo Kiew ist außer sich vor Wut. Auch die Sportjournalisten kritisieren, dass der Nationaltrainer drei Monate vor Beginn des Turniers verschwindet. Matthäus verteidigt sich: „Witalij schaut sich alle Spiele an. Er weiß, wer in Form ist.”
29. März
Frankfurt + Johannes B. Kerner löst Harald Stenger als DFB-Mediendirektor ab, bleibt aber Morgen-, Mittags-, Abend- und Nachtmagazin-Moderator des ZDF.
15. April
Kiew + Lothar Matthäus nominiert den endgültigen Kader. Er verzichtet auf Spieler aus dem Osten der Ukraine, von Schachtjor Donezk und Metallist Charkow. Stattdessen beruft er fünf Neulinge vom Absteiger FK Lemberg. „Ossis bringen’s einfach nicht”, sagt er.
16. April
Kiew + Matthäus telefoniert mit Achmetow.
16. April + Hiobsbotschaft für Matthäus: Die fünf nominierten Lemberger Spieler haben sich verletzt und fallen für das Turnier aus. Fünf Akteure von Schachtjor werden nachnominiert.
30. April
Kiew + Nur die Hälfte der Eintrittskarten für die EM-Spiele in der Ukraine ist verkauft. Wer Karten bestellen will, muss eine Schwimmstufe – mindestens Seepferdchen – nachweisen. Platini verteidigt trotzdem das Konzept der Fanflüsse.
15. Mai
Leipzig + Der FC Sachsen steigt wegen des schlechteren Torverhältnisses von 97:197 in die fünfte Liga ab. Schewtschenko gewinnt mit 97 Treffern die Torjägerkanone und verlängert seinen Vertrag trotz diverser Angebote – unter anderem vom FC Oberneuland, von Altona 93, dem VFC Plauen und Hansa Rostock I. „Ich fühle mich in Leutzsch sehr wohl”, sagt er.
19. Mai
Malente + Die ukrainische Nationalelf bezieht ihr Trainingslager. Matthäus beschwört den „Geist von Malente” und verspricht den Titel.
9. Juni
Warschau + Polen trennt sich im Eröffnungsspiel 1:1 von Deutschland. Den Ausgleich erzielt Miroslav Klose nach einer Flanke von Hannovers Sportdirektor Michael Tarnat (42), der für den verletzten David Odonkor (SpVgg Greuther Fürth) nachnominiert worden ist.
18. Juni
Kiew + Deutschland hat die Vorrunde als Gruppenerster gemeistert und zieht von Warschau nach Kiew um. Das Hotel ist allerdings geschlossen – offiziell wegen Einsturzgefahr. Alternativen gibt es nicht, alle Hotels sind ausgebucht. Die Spieler werden bei Gastfamilien einquartiert.
1. Juli
Kiew +
21.20 Uhr
Das Finale im fast ausverkauften früheren Leipziger Zentralstadion wird mit 20 Minuten Verspätung angepfiffen, weil beide Teams im Stau gesteckt haben. Bundestrainer Ballack, der endlich seinen ersten großen Titel gewinnen will, schickt folgende Mannschaft aufs Feld: René Adler – Per Mertesacker, Arne Friedrich – Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil, Toni Kroos, Philipp Lahm – Mario Gomez, Miroslav Klose, Kevin Kuranyi, Sandro Wagner. Die Ukrainer spielen mit Bondar-, Kilisch-, Degtjar-, Rusch-, Poldar-, Leon-, Tomtsch-, Pandar-, Waslitsch-, Gusjan- und Schewtschenko.
21.55 Uhr
Kroos, Weltfußballer von 2010 und 2011, schießt schon den dritten Freistoß an die Latte.
22.05 Uhr
Halbzeit. Matthäus ist unzufrieden mit seiner Abwehr und gerät mit Klitschko aneinander, der dank längerer Reichweite zwei klare Treffer landet.
Beim Stand von 0:0 nach 80 Minuten wechselt Matthäus aus. Er nimmt den erschöpften Andrej Schewtschenko (FC Sachsen Leipzig) vom Platz und bringt sich selbst. Die deutsche Bank protestiert. Matthäus aber beruft sich auf eine Regeländerung der Uefa, den so genannten Platini-Paragrafen. Danach kann ein Deutscher nach zweimaliger Heirat mit einer Ukrainerin für die ukrainische Nationalmannschaft spielen.
Fünf Minuten vor Schluss, nach einem Handspiel von Mertesacker, zeigt der Schiedsrichter auf den Elfmeterpunkt. Es ist schon der sechste Strafstoß für die Ukraine in diesem Turnier. Matthäus läuft an, täuscht Adler und trifft. Die Ukraine ist zum ersten Mal Europameister. Ballack und sein Co-Trainer Frings liegen sich in den Armen und weinen.
12. Juli
Kiew + Lothar Matthäus bekommt per Präsidentenerlass einen Platz auf dem Denkmal der Trainerlegende Walerij Lobanowski vor dem Stadion von Dynamo Kiew. In spätestens zwei Wochen soll der vergoldete Matthäus fertig sein. Ukrainische Denkmalexperten garantieren dies.
14. Juli
Kiew + Jürgen B. A. U. Löwe wird festgenommen. Es handelt um sich Jürgen Schneider. Er hinterlässt nach wilden Immobilienspekulationen dem ukrainischen Steuerzahler Schulden von 40 Milliarden Euro. Lothar Matthäus flieht mit dem Transrapid, der seit gestern fährt, nach Lemberg und wird in den Karpaten aufgegriffen. Deutschland beantragt die Auslieferung beider Männer nicht.
Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass Ukrainer in der Europäischen Union diskriminiert werden:
Leserin Nataliya aus Kiew hat mir geschrieben, bislang sei die harte Landung der Blaumeise¹ noch gar kein Thema in der Ukraine.
Nachtrag: Offenbar ist der Skandal nicht zu verheimlichen. Wie bild.de berichtet, habe die Meldung gestern die Fernsehnachrichten “in der Ukraine und sogar in Moskau” beherrscht. Und weiter heißt:
Andere in Kiew verstehen die Aufregung überhaupt nicht. So zitiert „Russland aktuell” im Internet Luzenkos Fraktionskollegen Sergej Moskal. Der erklärte angeblich, wenn die Fraktion jeden Fall von Trunkenheit von Abgeordneten in der Öffentlichkeit diskutieren würde, wäre man bald arbeitsunfähig, denn es gäbe „keinen Abgeordneten der Fraktion, der nicht trinkt”.
¹ Die Werkbank, an der sich solche schiefen Bilder drechsele, kommt nächste Woche auf den Sperrmüll.
Polens früherer Präsident Alexander Kwasniewski hat der Ukraine in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung ein miserables Zeugnis ausgestellt. Von einem “Staat mit eingebauter Blockade” spricht er und sieht in einer Verfassungsreform den einzigen Ausweg aus der ökonomischen Stagnation und den seit Jahren ungelösten Problemen: der Korruption, dem fehlenden Schutz des Eigentums, einem Rechtsstaat auf dem Niveau einer besseren Bananenrepublik. Er schreibt:
Der Mangel an staatlicher Effektivität führt dazu, dass eine schlechte ökonomische Situation immer schlimmer wird. Und er gefährdet die Integration des Landes in die Weltwirtschaft. Ohne eine Verfassungsreform wird eine Wirtschaftsreform schwierig, wenn nicht unmöglich sein.
Kwasniewski empfiehlt, die Verteilung der Rollen zwischen Staatschef, Premier, Kabinett und Parlament neu und klar zu definieren, um die Ukraine aus dem Dilemma “einer Art doppelten Präsidentschaft” zu befreien. Und am Ende seiner schonunglosen Analyse schlägt er vor, was beim Aufbau einer funktionierenden Verfassung beachtet werden muss:
SCHWERIN, DEUTSCHLAND/ODESSA, UKRAINE Ich vermisse meinen Freund Oleg, er fehlt mir, das gebe ich zu. Die ersten Tage nach dem Abschied von Odessa hatte ich geglaubt, Oleg und ich würden uns vielleicht nie wieder sehen, nicht einmal, wenn ich in ein paar Wochen in die Ukraine zurückkehren werde. Wir hatten genug voneinander. Mittlerweile spüre ich mehr und mehr, dass er meinem Leben gut tut – und es meinem Leben nicht gut tut, wenn ich ohne ihn bin. Wir telefonieren jeden zweiten Tag. Abends freue ich mich, dass ich ihn morgens anrufen kann. Fast immer beruhigt es mich, seine Stimme zu hören.
„Kolumnist vermisst, Kolumnist vermisst, Kolumnist vermisst”, sagte Oleg heute Morgen, nachdem er den Hörer abgenommen hatte. „Kolumnist, bitte melden!”
„Privjet!¹ Wie geht’s?”
„Blendend. Und dir?”
„Ich kann nicht klagen”, sagte ich, schwieg ein paar Augenblicke und lauschte der Melodie, die aus Odessa zu mir kam. „Hey, Oleg, du hörst ja die Pet Shop Boys, hast du auch die neue CD gekauft?”
„So ungefähr.”
„Illegaler Download, oder was?”
„Es ist deine CD. Du hattest Recht, tolle Platte, die beste seit Very 1993.”
„Wie kommst du an meine CD?”
„Ich wohne bei dir.”
„Du wohnst in meiner Wohnung?”
„Ja!”
Schlimmer als in Tadschikistan
Ich hatte Oleg einen Notfallschlüssel dagelassen. Falls es in der Wohnung über meiner einen Wasserrohrbruch gäbe, würde ich ungern aus Deutschland herbeifliegen müssen, um aufzuwischen und dem Nachbarn Schläge anzudrohen, sollte er den Schaden nicht bezahlen. Das könnte auch ein anderer, in diesem Fall Oleg, übernehmen.
„Oleg, das war nicht abgemacht, ich habe dir vertraut.”
„Deine Wohnung ist schöner.”
„Ich habe nicht mal einen Fernseher.”
„Jetzt schon.”
Ich atmete zweimal tief durch und ermahnte mich, die Sache nicht allzu spießig zu sehen. Ich sagte mir, es habe Vorteile, dass die Wohnung nicht unbewohnt sei über eine längere Zeit, dass jemand aufpasse, lüfte und das Wasser benutzte. Im Dezember war ich nach drei Wochen zurückgekehrt und hatte eine eiskalte Wohnung betreten. Die Heizung funktionierte nicht. Das Wasser wurde nicht warm. Zwei Tage später hatte ich einen Schnupfen. Ich redete mir auch noch ein, es hätte schlimmer kommen können. Ein Sachse, der in Duschanbe arbeitet, der Hauptstadt Taschikistans, hat mir erzählt, er wasche sein Bettzeug niemals, bevor er nach Deutschland fliegt, weil es üblich sei, dass der Vermieter samt Familie in Abwesenheit des Mieters einziehe. Während ich mich zu beruhigen versuchte, hörte ich, wie Oleg sang.
Oh now look what/you’ve gone and done/You’re creating/pandemonium/That song you sing/means everything/to me/I’m living in ecstasy/My world’s gone made/What did you do?/I’m telling perfect strangers/that I love you/The stars and the sun/dance to your drum/and now/it’s pandemonium
Das Parkett – mein Parkett – begleitete seine Stimme mit einem Knarren, als würde er gerade tanzen.
„Tanzt du gerade?”
„Und wie!”
„Ach, Oleg…”
„Hast du dich wieder beruhigt, Kolumnist?”
„Ja, Oleg, aber sei bitte so nett und räum ein bisschen auf, bevor ich wiederkomme, nicht dass noch deine Bettwäsche herumliegt.”
„Kein Problem”, sagte Oleg.
„Danke.”
„Ich habe das Bett gar nicht neu bezogen.”
„Du schläfst in meiner Bettwäsche?”, fragte ich.
„Ja!”
„Nein!”
„Ich habe auch gar keine Klamotten mitgebracht.”
„Du trägst meine Hemden und Hosen?”
„Nicht nur die”, sagte Oleg und lachte.
„Nein!”
„Doch!”
„Beruhig dich, Kumpelstilzchen.”
Gedopte Moderatorin
Manchmal in diesen Tagen denke ich, es wäre schön gewesen, wenn Oleg nach Schwerin hätte mitkommen können. In der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns finden bis Oktober Rentnerfestspiele statt; die Bundesgartenschau hat gestern begonnen. Ich habe mir die Eröffnungsfeier im Fernsehen angeschaut. Die Moderatorin redete, als habe sie vor der Sendung zu viel Schlafmohn verspeist. Ich werde diese Bundesgartenschau auf keinen Fall besuchen – eher fange ich an zu twittern.
Oleg würde dieser herangekarrte Blumenkitsch natürlich gefallen. Er ist Ukrainer, und Ukrainer sind kitschverliebt. Geburtstagssträuße sehen aus wie toupiert. Man sieht auch die Blüten vor lauter Plastik nicht. Das Land steckt musikalisch, modisch und wohnlich noch tief in den achtziger Jahren. Zu viele Frauen tragen Tigerdruck, zu viele Männer hören Modern Talking, zu viele Paare kaufen chinesischen Nippes fürs Wohnzimmer.
Der kulturlose Strand
Vor ein paar Wochen habe ich mit Oleg eine Konferenz zur Stadtentwicklung besucht. Es gab einen Arbeitskreis, der für Odessas Strand eine Zukunft entwerfen sollte, vorab allerdings erst einmal zu klären versuchte, wie die Gegenwart ist. Die Männer sollten mit grünen, blauen, roten und gelben Steinchen das Verhältnis von Ökologie, Wirtschaft, Kultur und Soziales am Strand darstellen. Relativ schnell einigte sich die Gruppe auf Ausgewogenheit: 25 Prozent Ökologie, 25 Prozent Wirtschaft, 25 Prozent Kultur, 25 Prozent Soziales. Ein junger Experte aus Deutschland empfahl, nachdem er wild gelacht hatte, die Wirtschaft auf mindestens 50 Prozent zu setzen und auf die roten Kulturwürfel realistischerweise ganz zu verzichten. Er sagte dann noch: „Wenn alles 25 Prozent wäre, wären wir ja nicht hier, um die Zukunft zu planen.”
„Bist du noch dran?”, fragte Oleg. „Ich muss los, ich habe ein Vorstellungsgespräch. Hast du was dagegen, wenn ich noch mal deinen Anzug trage?”
„Ja, Oleg, ja, ich habe etwas dagegen.”
„Hallo? Haaaaaalllloooooooooo?”
„Oleg! Nicht den Anzug!”
„Ei, die Verbindung ist gerade ganz schlecht, Kolumnist, ich hör dich nicht mehr. Wir telefonieren wieder. Mach’s gut! Ach so, wird spät heute Abend, ich geh tanzen, bisschen Frauengucken, wenn du verstehst. Mal schauen, ob sich was ergibt. Ich hätte Lust auf eine Kissenschlacht. Du bist ein echter Freund, kein Würstchen.”²
ODESSA, UKRAINE Eine emerierte Professorin aus Deutschland hatte mir erzählt, auf dem Friedhof Nr. 2 gebe es Mafiagräber, bewacht von Männern in pistolenartig ausgebeulten Hosen und Jacken. Ich bin zwei Stunden lang alles abgelaufen, Mafiagräber aber habe ich nicht entdeckt. Auf vielen Steinen steht, was die Person im Diesseits getan hat, die Verdienste und Ämter werden angeführt. Alles ist sehr transparent. Die Mafia macht das leider nicht.
So habe ich nur zwei Ratten¹ gesehen, eine Menge Müll, hin und wieder ein Feuerchen, weil Abfälle überall verbrannt werden, ungewöhnliche Blumenvasen, die letzte Ruhestätte von Fußballern, Künstlern, Rennfahrern, Professoren und Politikern, von denen verdächtig viele in der wilden Zeit Mitte des Landes der neunziger Jahre hierhin umgezogen sind. Wenigstens weiß ich jetzt, wie mein Grab einmal aussehen wird. Ein bisschen Extravaganz soll schon sein:
Jemand hatte mir erzählt, auf dem Friedhof Nr. 2 sei die Verbrecherdichte sehr hoch. Praktischerweise liegt das Gefängnis nur fünf Minuten entfernt, und als ich dort durch einen Spalt hinein zu schauen versuchte, öffnete sich sogleich die schwere Schiebetür.
ODESSA, UKRAINE Erinnert sich noch jemand an das hübsche Feuerchen am Bahnhof? Als Journalist, der jahrelang über altmärkische und mecklenburgische Feuerwehrbälle, O-Märsche, Löschangriffe (nass) und Tatütata überhaupt berichtet hat, teile ich an diese Stelle mit, dass es ordnungsgemäß heruntergebrannt ist.
ODESSA, UKRAINE Da liest man, nichts Böses ahnend, im Café “Kompott” am Bahnhof die Zeitung “Segodnya” – und dann so etwas: Die Kinder der Ukraine wüssten wenig über den Weltraum und den ersten Kosmonauten – behaupten die Journalisten und belegen dies mit einer selbsterdachtengemachten Umfrage. Die Zeitung lässt Jurik (5) und drei andere Kinder 28 48 Jahre nach dem 12. April 1961 die Frage beantworten: “Welches Land hat den den ersten Mensch ins All geschickt, und wer war dieser Gagarin?” Die Überschrift des Textes, den ich leider nicht im Netz finde, lautet: “Gagarin – ein berühmter Schriftsteller, die Ersten im Weltraum waren die USA”. Ich bin nicht sicher, dass ein Fünfjähriger unbedingt wissen muss, wer Juri Gagarin war. Möglicherweise gibt es Wichtigeres – unter Umständen besonders in der Ukraine.