Kolumne: Oleg und das Kolumnistenketchup

ODESSA, UKRAINE Heute hat mich Oleg angerufen. Er war mal wieder extrem aufgeregt, wie er das fast immer ist, wenn er mich anruft. Ich habe so einen Verdacht: Entweder ruft er mich an, um sich aufzuregen, oder er regt sich auf, um mich anzurufen. Zunächst plauderte er ein bisschen über die Hitze in Odessa, dann erzählte er etwas von 23 Klimmzügen an seiner Klimaanlage, wobei ich nicht weiß, ob ich Oleg richtig verstanden habe, irgendwann unterbrach ich ihn und fragte, was er eigentlich wolle.
„Kolumnist, ich hab ‘ne gute Nachricht”, sagte er und machte eine ewige Pause, „’ne verdammt gute Nachricht, ich weiß, wo es Ballpumpen…”
„Mach’s nicht spannend, wo muss ich hin?”
„Lass mich doch ausreden: wo es Ballpumpen gab.”
„Mist. Was ist die gute, verdammt gute Nachricht?”
„Naja, ich habe die letzten zwei bekommen.”
„Toll, dann kannst du mir ja eine Pumpe abgeben”, sagte ich.
„Was bietest du?”
„Hör mal, Oleg, ich bezahle den Preis, den du bezahlt hast, und vielleicht spendiere ich dir noch ein Bier.”
„Vergiss es”, sagte er.
„Wie bitte?”
„Dann behalte ich beide Ballpumpen.”
„Gut, was verlangst du?”, fragte ich. „Sag schon!”
„Zufällig weiß ich, dass der Kolumnist dieses weltberühmte Ketchup…”
„Oleg, das ist gemein. Ich bin durch zwanzig Supermärkte gelaufen, überall in der Stadt.”
„Stell dich nicht so an.”

Im Grunde brauche ich keine Ballpumpe. Ich besitze zwar einen Fußball, er ruht aber seit fünfeinhalb Monaten ungetreten in der Einkaufstüte. Die Ballpumpe ist zum Symbol für Dinge geworden, die ich in Odessa suche, aber nicht finde. Ich habe bislang unter anderem gesucht:

Noch gern erinnere ich mich auch an den Tapeziertisch, den ich als Schreibtisch benutzen wollte, weil mir kein Schreibtisch gefiel, der mir gezeigt wurde. Die Männer, die auf Odessas Märkten Holz zurechtsägen, schauten mich an, als trüge ich ziemlich großes, dickes Brett vor dem Kopf.
„Ich will einen Tapeziertisch”, sagte ich.
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche einen Tisch, um zu tapezieren.”
„Ich verstehe nicht.”
„Egal, ich will den Tapeziertisch sowieso als Schreibtisch benutzen.”
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche eine Holzplatte, die müssten Sie mir sägen, und zwei Böcke, damit die Platte nicht in der Luft schweben muss.”
„Brauchen Sie jetzt einen Schreibtisch oder dieses andere Ding? Und welche Böcke überhaupt? Ich verstehe nicht.”
Als ich mich bei Oleg beklagte, sagte er nur: „Tapeziertische, so was haben wir nicht.”
„Und wie wird bei euch tapeziert?”
„Wir legen die Tapete auf den Boden.”
„Aber der ist doch schmutzig”, sagte ich.
„Herrgott, dann wischt man eben erst den Boden und tapeziert dann.”

Ich werde mich nicht beklagen. Ich habe zuletzt ein paar Wochen in Deutschland gelebt, genauer gesagt: in einer ostdeutschen Kleinstadt mit schlimmer Rasenmäherromantik. Mittag für Mittag zwischen eins und drei, außer natürlich am Wochenende, schoben kurzhaarige Männer in kurzen Unterhemden und kurzen Hosen brummende Ungetüme durch Vorgärten. Nicht nur die Männer, auch die Vorgärten sahen gleich aus: hier ein paar Büsche, dort ein spindeldürres, bulimiekrankes Bäumchen, das kaum Schatten spendet, und ringsum eine akkurate Hecke auf Genitalbereichshöhe. In Deutschland werden sogar Mülltonnen abgeschlossen. Nach meiner Rückkehr habe ich mich gleich wieder ein bisschen in Odessa verliebt.

Ich sehe, wie Männer auf dem Bürgersteig ihr Auto mit einem Schwamm putzen und das Wasser nicht aus einem Schlauch, sondern aus einer alten Wasserflasche holen. Daneben wachsen Gasleitungen aus dem Boden. Ich erfreue mich an der Verkäuferin im Supermarkt, Heldin der Anarchie, die während des größten Kundenansturms vor sich ein Schild mit der Aufschrift „Technische Pause” aufstellt und dann nur einer Beschäftigung nachgeht: Sie versucht nicht einzuschlafen. Ich mache auch wieder Fehler, die ich längst abgestellt hatte. Zum Beispiel rufe ich ein Taxi, um im Regen halbwegs trocken nach Hause zu gelangen, und kriege den Mund nicht mehr zu, wenn die Frau in der Zentrale sagt: „Hören Sie mal, junger Mann, es regnet. Wo soll ich jetzt ein Taxi auftreiben?” Am Strand liegt natürlich noch der Schmutz vom Sommer ’08, wobei ich mich aus gewissen Gründen nicht auf ein Jahrhundert festlege. Ach ja, verziehen sich eigentlich Zimmertüren aller Nationalitäten zwischen Winter und Frühling? Oder ergeht das bloß meinen ukrainischen so?

Nicht einmal der Baulärm stört mich mehr, der mich seit März begleitet. Am Anfang arbeiteten auf dem Hof drei Vierzehnjährige. Ihr Arbeitstag begann um halb eins und endete um acht, was am Wochenende zwangsläufig dazu führte, dass sie hämmerten und stemmten, schleiften und bohrten, während ich Mittagsschlaf machen wollte. Ihre Nachfolger dürften immerhin schon beinahe volljährig sein. Sie fangen noch ein bisschen später an, und wenn ich abends um halb neun frage, ob sie vielleicht Schluss machen könnten, weil meine Kinder schlafen wollten, empfehlen sie mir, deren Tagesablauf einfach umzustellen. Ich habe noch immer keine Ahnung, was sie eigentlich errichten oder vernichten – ich weiß nur, dass ich in den all den Monaten noch nicht einmal eine Wasserwaage oder einen Zollstock gesehen habe. Wahrscheilich würde mich das noch mehr amüsieren, wenn die vielen Steine und Balken, die nach draußen geschafft werden, nicht von dem Teil des Hauses unter meiner Wohnung stammten.

„Was ist nun?”, fragte Oleg. „Kolumnistenketchup gegen Ballpumpe, kommen wir ins Geschäft?”
„Ja.”
„Dann morgen um zehn an der großen Treppe, aber keine miesen Tricks, du kommst allein.”

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23 comments

  1. Axel

    Mein Onkel Heinz hatte vor Zeiten einmal etwas zu viele Tomaten in seinem Gewächshaus angebaut. Weil er nicht mehr wusste, wohin damit, hat er aus einem Teil Ketchup gemacht. Sieht dem Original-Heinz-Ketchup übrigens zum Verwechseln ähnlich, schmeckt aber viel besser. Soll ich Oleg ein paar Fläschchen davon schicken?

  2. Iris

    Soll ich den Typen, der hier in Kiew am Platz des Sieges einen Stand mit Nürnberger Würstchen aufgemacht hat mal bitten, sich auch in Odessa zu betätigen ? Der hat nicht nur Bratwurst, sondern auch ganz anständige Bockwürste bzw. Wiener.

  3. Axel

    Ha, dass ich nicht lache: Odessa und Nürnberger Würstchen. Außerdem wäre Nürnberger Würstchen und Ketchup ein nicht wieder gutzumachender Affront. Nicht einmal Senf ist erlaubt. In dem kleinen Städtchen, in dem ich arbeite ist man bis vor kurzem noch aus dem Bratwurststüberl geschmissen worden, wenn man Nürnberger Würstchen mit Senf bestellt hat. Nur Meerrettich war zugelassen.

  4. Doctor Robert

    Christoph, es muss ja wirklich ziemlich heiß sein in Odesssa, denn auf dem Foto der Baustelle rekelt sich am rechten Bildrand ein gut gebräunter Bauarbeiter.
    Was ich mich frage: Trägt er tatsächlich nur Handschuhe?

    Und wer hat ein Stück aus der Tür herausgebissen?

  5. Iris

    @Axel,
    “Außerdem wäre Nürnberger Würstchen und Ketchup ein nicht wieder gutzumachender Affront. Nicht einmal Senf ist erlaubt. In dem kleinen Städtchen, in dem ich arbeite ist man bis vor kurzem noch aus dem Bratwurststüberl geschmissen worden, wenn man Nürnberger Würstchen mit Senf bestellt hat. Nur Meerrettich war zugelassen.”
    Das nenne ich mal WOHLSTANDSSORGEN !

  6. cw

    @Iris: Verkauft der Mann in Kiew tatsächlich Nürnberger Würstchen? *lechz* Ich stelle schon mal Senf und Ketchup Chili-Sauce kalt.

  7. Iris

    @cw,
    ja es sind tatsächlich Nürnberger Würstchen – zumindest was ich dafür halte ;)
    Vergiß beim Kaltstellen den Chren nicht ;)

  8. Iris

    @Axel,
    das hatte ich schon verstanden, ich wollte doch Christoph zum vorauseilenden Gehorsam verleiten ;)
    Aber ehrlich, Kren paßt viel besser zu einer guten ukrainischen Sülze, als zu Würstchen. Aber über Geschmack soll man ja bekanntermaßen nicht streiten- leider ;(

  9. Doctor Robert

    @cw: Ja, es interessiert mich wirklich, ob er (der Bauarbeiter) unterhalb des Bauchnabels bekleidet ist.
    Möglicherweise brauche ich die Bestätigung, dass er mehr als nur die Handschuhe trägt, damit ich dieses Bild aus meinem Kopf bekomme: Er robbt nur mit diesen Handschuhen bekleidet über den Asphalt, blickt bei Passanten kurz auf und nickt zum Gruß. Natürlich mit Zigarette, die im Mundwinkel hängt.

    @ Axel & Iris: Wahrscheinlich eine dumme Frage: Was ist “Kren”? Habe ich noch nie gehört, glaube ich.

  10. Iris

    Meerrettich (Armoracia rusticana bzw. Cochlearia armoracia).
    Unsere süddeutschen und österreichischen Freunde nennen ihn Kren und hier in der Ukraine heißt er Chren (хрен). Und er paßt nicht zu Würstchen ;)

  11. Iris

    Ach nochwas, bevor hier jemand schreit “хрен” ist russisch – das stimmt. Auf ukrainisch wird es “хрiн” geschrieben.

  12. cw

    @Iris: Morgen kaufe ich mir Kren, chren, chrin.

    @Doctor Robert: Ja, der Bauarbeiter ist südlich des Bauchnabels bekleidet. Er trägt ne Sporthose. Übrigens: In der Ukraine wird selten gegrüßt. Im Treppenhaus grüßt sich bei uns niemand.

  13. Doctor Robert

    @Iris: Vielen Dank. Wieder was gelernt am heutigen Tag. Da kann ich ja beruhigt ins Bett gehen. Und ich stimme zu: Kren passt überhaupt nicht zu Würstchen.

    @cw: Danke für die Info. Hoffentlich träume ich nachher nicht noch von dem Bauarbeiter. Ich werde berichten, falls es doch passiert.

  14. Nataliya

    hallo Christoph,

    könnte ich mal Oleg kennenlernen? Ich glaube, ich hätte ihm was zu erzählen…))) und beibringen…)))

  15. Thinkabout

    Beste Unterhaltung! Auch für die Blogbibliothek, wo der Artikel eben erschienen ist. An alle geneigten Leser dieses und anderer Blogs ergeht die freundliche Einladung, auch andere Artikel aus weiteren Blogs vorzuschlagen und sich damit aktiv an der BB zu beteiligen.

  16. Ping: Leser-Blog-Bindung: Heiße Bratwürstchen (w.z.b.w.) : Christoph Wesemann

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