Kategorie: Kolumnen

Kolumne: Klopfschmerzen

ODESSA/UKRAINE Ich bin ein Verräter. Ich habe den Sohn meiner Vermieterin, den ich kaum kenne, bei der Polizei verpfiffen. Vielleicht ist alles auch noch viel schlimmer – falls der Polizist an meiner Tür gar kein Polizist gewesen ist. Ich habe mir nämlich keinen Dienstausweis zeigen lassen.

Alles begann mit einem Klopfen an meiner Wohnungstür. Es klopft eigentlich nie jemand. Die Klingel ist sowieso kaputt. Ich habe nicht einmal ein Namensschild. Früher, in meiner ersten Odessa-Wohnung, in der Nähe des Ukrainischen Theaters, hat es gelegentlich geklopft und auch geklingelt. Meist kamen ältere Frauen, um die Werte vom Strom-, Gas- oder Wasserzähler abzulesen. In meiner zweiten Odessa-Wohnung mache ich das selbst und bringe die Ergebnisse – wie die Miete – in das Stammlokal meiner Vermieterin, das dadurch zwangsläufig auch mein Stammlokal geworden ist. Ich weiß nicht, was mit den Zahlen geschieht, nachdem ich sie abgeliefert habe. Alle paar Monate bezahle ich bei der Vermieterin kommentarlos einen dreistelligen Griwna-Betrag. Es ist nicht so, dass ich ihr vertaue, ich bin bloß zu faul, die Einzelheiten der Abrechnung zu verstehen.

Gestern stand also vor meiner Tür ein Mann von der Polizei. Er trug keine Uniform, nannte einen Namen und fragte, ob ich diese Person sei.
Ich verneinte, nannte meinen Namen und zitterte trotzdem.
„Kennen Sie ihn vielleicht?”
„Er ist der Sohn meiner Vermieterin”, sagte ich. „Aber ich kenne ihn kaum.”
„Was heißt denn kaum?”
„Er hätte fast mal meinen Boiler repariert, musste aber leider seinen Zug in den Skiurlaub bekommen.”
„Ich verstehe, dann kennen Sie ihn eigentlich doch recht gut.”
„Aber ich würde ihn nicht unbedingt wiedererkennen”, sagte ich. Damit konnte er eine Gegenüberstellung vergessen. „Ich habe auch nur die Telefonnummer meiner Vermieterin.”
„Die nehme ich.”
„Stimmt etwas mit der Wohnung nicht?”, fragte ich dann noch.
„Alles in Ordnung”, sagte der Mann, speicherte die Nummer und verschwand.

Ich bin kein Niemand mehr in meinem Viertel. Die vier Wochen auf Krücken nach meinem Unfall mit der Marschrutka haben mich zu einer Kiezgröße gemacht. Selbst die Türsteher im Supermarkt begrüßen mich per Handschlag. Wenn man ein halbes Jahr lang selbst von den Nachbarn im selben Stock ignoriert wird, nimmt man so etwas wahr. Vor einer Woche habe ich sogar Post bekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass dies überhaupt möglich sei, ich wusste ja nicht einmal, dass ich einen Briefkasten besitze. Ich entsinne mich auch nicht, jemals Postboten in Odessa gesehen zu haben, aber wahrscheinlich halte ich nur Ausschau nach gelben Fahrrädern. Gewöhnlich klemmen Zettel, meist Rechnungen, an meiner Tür, neben der stummen Klingel. Da sie ausschließlich an den Sohn meiner Vermieterin adressiert sind, kümmern sie mich nicht. Ohne meine Nachbarin von unten hätte ich von der Post nie erfahren. Sie öffnete mir den Briefkasten sogar mit einem Generalschlüssel. Wie sollte ich auch, da ich angenommen hatte, ich besäße gar keinen Briefkasten, einen Briefkastenschlüssel besitzen? Ich habe mich über die Werbung des Fitnesstudios sehr gefreut.

Mein Freund Oleg sorgt sich wegen des Polizisten um mich. „Du hast den Kerl nicht nach seinem Ausweis gefragt?”, schrie er gestern, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. „Bist du jetzt vollkommen bescheuert?”
„Weißt du, es steht nicht jeden Tag ein Polizist vor meiner Tür.”
„Du hättest nicht aussagen müssen. Warum hast du nicht den ahnungslosen Deutschen gespielt? Ihr mit eurem Übereifer, wollt immer die treuesten Staatsbürger sein. Selbst zum Dummstellen bist du zu blöd.”
„Oleg, es war bestimmt ein Polizist”, sagte ich.
„Ich sag nur: Trau keinem Polizisten, den du nicht selbst bestochen hast.”
„Lass uns etwas trinken gehen.”
„Dass ich diesen Satz mal von dir hören würde”, sagte Oleg. „Wohin gehen mir?”
„Entscheide du”, sagte ich, „ich brauche nur Bier. Viel hilft viel.”
„Bier ohne Wodka ist rausgeschmissenes Geld.”
„Wie du meinst.”

Meine Vermieterin trägt mein Verrätertum übrigens mit Fassung. Sie hat natürlich gleich angerufen und ein bisschen mit mir geschimpft. Warum ihr Sohn von der Polizei gesucht wird, habe ich allerdings nicht erfahren. Sie sagte nur: „Mach nie die Tür auf, wenn jemand klopft. Und falls irgendwer fragt, warum du in dieser Wohnung bist – du machst Urlaub, klar?” Ich zahle ihr eine sehr hohe Miete, ich denke, ich habe Anspruch auf einen Hauch Legalität. Ich will kein Kolumnist im Untergrund sein. Es wäre nicht unbedingt die Angst, die mich von diesem Schritt abhielte – ich bin bloß viel zu eitel für anonyme kolumnistische Anschläge.

Ich bin sehr, sehr eitel. Zunächst hatte ich geglaubt, ein bisschen sogar gehofft, der Polizist komme, um mich abzuführen, weil meine Kolumnen eine leichte Form des Landfriedensbruchs darstellten. Es hätte mir geschmeichelt, politischer Gefangener der Ukraine zu sein.

Kolumne: Mein Sohn, der Gausbub

ODESSA/ILLITSCHOWSK/SANJEJKA, UKRAINE Ich brauche einen Termin bei Günter Gaus. Es ist dringend. Mein Sohn will ihn kennen lernen. Ich weiß schon, dass Gaus vor ein paar Jahren gestorben ist, mein Sohn weiß es auch, sogar von mir. Trotzdem habe ich versprochen, ein Treffen zu arrangieren.

Günter Gaus (1929-2004) war Journalist, Publizist, Fernseh-Interviewer und vor allem erster Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR. Er arbeitete zwar als Botschafter, musste aber anders heißen, weil Bonn die Souveränität  des bösen Nachbarn nicht anerkannte. Seit einer Weile lese ich „Widersprüche”, seine Autobiografie. Gleich am ersten Tag – Günter war noch ein Gausbub – fragte mein dreijähriger Sohn, wer der Mann auf dem Titelbild des Buches sei. Er lauschte, was mir einfiel, und betrachtete die Fotos der Männer mit den schweren wie schwarzen Sechziger-Jahre-Hornbrillen: Gaus und Henry Kissinger, Gaus und Rudolf Augstein, Gaus und Gustav Heinemann. Von Kanzler Willy Brandt war mein Sohn fasziniert – wahrscheinlich, weil der keine Sechziger-Jahre-Hornbrille trug. Es vergingen ein paar Tage. Mein Gaus erzählte mir vom Zweiten Weltkrieg, machte Abitur und studierte.

Am Sonnabend, am Strand von Sanjejka, unterbrach mich mein Sohn plötzlich,  zeigte auf das Gaussche Gesicht und sagte: „Schon tot!”
„Ja.”
„Willy Brandt ist auch schon tot.”
„Stimmt”, sagte ich.
„Wollen wir ihn mal besuchen?”
„Willy Brandt?”
„Ja.”
„Der hat bestimmt keine Zeit für uns”, sagte ich. „Er hat viel zu tun.”
„Und der andere, hat der Zeit?”
„Günter Gaus?”
„Ja, hat der auch viel zu tun?”, fragte mein Sohn.
„Nö, ich glaube nicht.”
„Dann fahren wir zu ihm, ja?”
„Wie denn?”, fragte ich.
„Na, mit der Marschrutka“, sagte mein Sohn. „Geht das?”
„Klar, aber ich muss erst noch herauskriegen, wo er jetzt wohnt.”

Ich war nicht in der Stimmung, ihm zu erklären, was der Tod für ein Leben bedeutet, vielleicht hatte ich auch Angst, dass er noch zu wenig versteht oder schon zu viel. Das Thema verlangt, dass ich mir meine Worte erst zurechtlege. Hätte ich ihm erklären sollen, was ein Leichenschmaus ist oder ein Friedhof? Und was ist mit dem Wort „Trauerfeier” – gibt es einen größeren Widerspruch für einen Dreijährigen?

Natürlich sind mir Gedanken an den Tod nicht fremd. Seit ich in der Ukraine lebe, kann ich sie auch schlecht verdrängen. Gelegentlich rechne ich mit meinem frühzeitigen Ableben. Gestern, auf dem Rückweg von Sanjejka, war wieder so ein Augenblick. Ich fuhr durch Illitschowsk, ich war neugierig auf die Hafenstadt in der Nähe Odessas, ich hatte schon viel Gutes über sie gehört. Illitschowsk hat außer vielen schrecklichen Plattenbauten auch nette Ecken. Mancherorts leuchtet es sogar grün, und die Mülleimer sehen aus wie Pinguine.

Irgendwo dort bedrängte mich ein anderes Auto, es verfolgte mich und fuhr dicht auf. Ich drehte die Musik lauter, so etwas beruhigt mich sonst immer, klappte den Rückspiegel um, um den Verfolger leichter ignorieren zu können, und beschleunigte schließlich. Nun wusste ich wenigstens, dass ich mir nichts eingebildet hatte – es war jemand hinter mir her. Am Hafen wurde ich dann geschnitten, der Wagen bremste mich aus, und heraus sprang eine Frau. Sie lief heran, klopfte gegen die Scheibe und fragte, ob ich gerade auf der Suche nach einem Urlaubsquartier in Illitschowsk sei. Ich verneinte, klappte den Rückspiegel zurück und vergewisserte mich, dass ich noch am Leben sei. Die Frau verabschiedete und schaute noch einmal auf mein deutsches Autokennzeichen.

Auf der Krim hatte ich einen jungen Deutschen kennen gelernt und mich mit ihm – nach ein paar Bieren – amüsiert über die Art, wie Ukrainer Ferienwohnungen zu vermieten versuchen. Sie sitzen den ganzen Tag unter einem Sonnenschirm und warten, dass sie um eine Ferienwohnung gebeten werden. Wir fanden diese Art der Geschäftsführung, vorsichtig ausgedrückt, ein bisschen unproduktiv, ja passiv. Die Dame in Illitschowsk war wiederum eindeutig zu aktiv.

Wenn Günter Gaus in seiner Autobiografie nicht ganz geflunkert hat, müsste er im Himmel gelandet sein. Mir scheint, er war ein guter Mensch. Klar, er lobt sich ein bisschen zu oft in seinen Memoiren – aber wer nimmt sich denn nicht ernst, wenn er „ich” ist? Ich werde Gaus finden. In der Hölle lebt er allenfalls zeitweilig – als Ständiger Vertreter des Himmels. Er arbeitet zwar als Botschafter, darf sich aber natürlich auch diesmal nicht so nennen. Der Himmel hat die Souveränität der Hölle bislang nicht anerkannt.

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Kolumne: Oleg und die Gänsefüßchen

ODESSA, UKRAINE Manchmal ist mein Freund Oleg ein bisschen arg begriffsstutzig. Woran das liegt, weiß ich nicht, wahrscheinlich bin ich selbst nicht der Hellste, sonst wüsste ich es bestimmt. Gestern Abend hat er mich wieder besucht.
„Kommst du, um dich zu entschuldigen?”, fragte ich.
„Nee, wieso?”
„Ich habe Sonnenbrand”, sagte ich.
„Es gibt Sonnencreme und Sonnenschirme.”
„Sonnenbrand kann sehr unangenehm sein.”
„Und was kann ich dafür?”, fragte er. „Gib mir mal bitte einen Teller Pelmeni.”

Gesundheitspfad am Strand

Ich erinnere mich gut. Am vergangenen Donnerstag hatte ich beschlossen, übers Wochenende wegzufahren. Ich würde am Montagmorgen in einer Pension mit Blick aufs Meer aufwachen. Montag war Feiertag in der Ukraine; offiziell, um genau zu sein, war der Feiertag zu Ehren der Verfassung bereits am Sonntag. Aber wenn in der Ukraine ein Feiertag aufs Wochenende fällt, ist der Montag grundsätzlich frei. Ich hatte mir am Donnerstagmorgen eine Reiseroute ausgedruckt, im Internet eine Pension gefunden und das Auto getankt. Dann kam Oleg zum Abendessen vorbei.
„Schon was vor am Wochenende, Kolumnist?”, fragte er und schaufelte einen Löffel Pelmeni in seinen Mund.
„Ich verreise.”
„Würd’ ich nicht machen”, sagte Oleg und kaute. „Die Pelmeni sind nicht schlecht, kannst du öfter kochen.”
„Mein Auto ist doch wieder legal.”
„Weiß ich, stand doch im Blog, dass du mit der Kolumnistenkarre nach Kutschurgan gekutscht hast. Hattest ganz schön die Hosen voll, oder? Ich würde trotzdem nicht fahren.”
„Das Auto ist legal!”
„Das Wetter wird aber beschissen”, sagte Oleg.
„Ist denn auf den ukrainischen Wetterbericht Verlass?”, fragte ich.
„Auf den ukrainischen Wetterbericht ist genauso viel Verlass wie auf alles Ukrainische. Aber das ist nicht der Punkt.”
„Was ist denn der Punkt?”
„Am Tag der ,Verfassung’”, sagte Oleg und zeichnete mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände unsichtbare Gänsefüßchen in die Luft, „am Tag der ,Verfassung’, übrigens auch am Tag davor und danach, ist das Wetter immer mies. Meistens regnet es, weil der Himmel weint.”
„Wieso sagst du eigentlich ,Verfassung’?”, fragte ich und setzte Anführungsstriche, wie es Oleg getan hatte.
„Ich versteh nicht.”
„Wieso sagst du ,Verfassung’ und nicht Verfassung?”
„Sehr witzig, hat die Ukraine eine Verfassung?”
„Du meinst also, ich soll zu Hause bleiben?”
„Drei Tage Regen, Sonnabend, Sonntag, Montag, kannst dich auf mich verlassen.”

Oleg, so viel weiß ich jetzt, ist kein Verfassungspatriot im engeren Sinne. Ich bin zwar auch keiner, aber ich kenne zumindest einige Deutsche, die es sind, also, ich kenne sie nicht direkt persönlich, eingefleischte Verfassungspatrioten wie Jürgen Habermas und Richard von Weizsäcker zählen eher nicht zu meinem Umgang, was vermutlich nicht nur am Altersunterschied liegt, sondern – siehe oben – auch ein bisschen an meinem Gehirnnebel. Ich hänge halt lieber mit Typen wie Oleg rum. In gewisser Weise verstehe ich ihn. Man braucht sich nur das Hickhack um die ukrainische Präsidentschaftswahl anzuschauen. Zunächst hatten 401 der 450 der Abgeordneten des Parlaments für den 25. Oktober als Wahltag votiert und sich auf die Verfassung berufen, um die Abstimmung vorzuziehen. Daraufhin klagte Staatsoberhaupt Viktor Juschtschenko vor dem Verfassungsgericht – und worauf berief er sich wohl? Genau. Er bekam Recht.

In der Verfassung steht, dass die Wahl am letzten Sonntag des fünften Amtsjahres des Präsidenten stattfinden muss. Allein diese Formulierung ist für mich intellektuell gar nicht fassbar. Als sei das nicht kompliziert genug, gibt es zum einen „unterschiedliche Interpretationen, auf welchen Termin dieser letzte Sonntag fällt”.  Zum anderen „ist umstritten, ob die Verfassung in ihrer jetzigen Form bereits anzuwenden ist, da die Wahlgesetzgebung während der Amtszeit des jetzigen Präsidenten geändert wurde”.
Nun wird wahrscheinlich – oder vielleicht, was weiß denn ich – am 17. Januar gewählt. Wer übrigens glaubt, die Parlamentarier hätten sich wegen des mutmaßlich schöneren Wetters für den Oktober und gegen den Januar entschieden, liegt falsch.

„Brauchst du Sonnencreme?”, fragte Oleg und füllte sich Pelmeni auf.
„Du hast gesagt, am Tag der Verfassung, am Tag davor und am Tag danach werde es regnen.”
Oleg schwieg, zuckte mit den Achseln und schmatzte.
„Du hast gesagt, der Himmel weine wegen der Verfassung.”
„Worauf willst du hinaus?”
„Es hat nicht geregnet am Verfassungswochenende, nicht ein einziges Mal, es war die ganze Zeit blauer Himmel, und das blöde Verfassungswochenende hat mir einen schönen Sonnenbrand verpasst”, sagte ich und fing auf einmal an zu schreien. „Ich hätte am Tag der Verfassung in einer wunderbaren Pension mit Meerblick aufwachen können, wie ich es geplant hatte – bis du kamst mit deinem Verfassungsdauerwolkenbruch.” Ich schrie sehr, sehr laut. „Weißt du, wie ich den Tag der Verfassung verbracht habe? Morgens bin ich zum Großeinkauf in den Supermarkt gefahren, nachmittags an den Strand, wo es so heiß war, dass ich jeder Fliege dankbar war, die ein bisschen Wind gemacht hat. Der Himmel hat nicht geweint, du Poetrologe.”
„Verfassung, Verfassung, Verfassung, ich höre die ganze Zeit Verfassung”, schrie Oleg.
„Ja und?”, schrie ich.
„Wovon redest du?”, fragte Oleg. Er schrie noch lauter, sein ganzes Gesicht war rot, es glühte wie mein Rücken. „Welche Verfassung?”

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Kolumne: Mein Sohn und der Sandalismus

ODESSA, UKRAINE Ich habe die Kindergärtnerin meines Sohnes sehr, sehr glücklich gemacht. Um zu verstehen, wie viel mir das bedeutet, sollte ich vielleicht gestehen, dass sie meinetwegen gewöhnlich sehr, sehr unglücklich ist. Zuletzt haben ihr alle Schuhe meines Sohnes missfallen, sie fand sie mal zu klein, mal zu groß, dann zu warm oder zu ausgeleiert. Zwei Wochen lang beklagte sie sich bei mir. Ich stopfte Watte in die zu großen Blauen meines Sohnes und band die zu kleinen Braunen etwas lockerer. Doch dann hatte sie endgültig genug von meiner Schuhmelei, gab mir ihre Rabattkarte und schickte mich in das dazu passende Geschäft. Ich kann nicht sagen, dass ich erfreut gewesen wäre, es war eher so, dass ich gehorchte. Jeder Vater, ganz gleich welcher Nationalität, Religion oder sozialen Schicht, wird vor der Kindergärtnerin seines Sohnes zum Zwerg. Nachdem die Verkäuferin den Kolumnistenkinderfuß vermessen hatte, kaufte ich schöne, nicht gerade billige Sandalen und brachte meinen Sohn am nächsten Morgen mit einem beschwingten Gefühl in den Kindergarten.

Am Nachmittag hätte mich die Erzieherin fast erwürgt. Sie sagte, die Sandalen seien nicht nur viel zu groß, sondern auch viel zu schwer. Als ich Zwergenpapa, mich verteidigend, einwarf, wir seien in dem Laden gewesen, den sie mir empfohlen habe, schüttelte sie ihren Kindergärtnerinnenkopf und schwor, sie werde sich bei der Verkäuferin beschweren. Dann zeigte sie auf alle Kinderfüße, die gerade herumliefen, und sagte: „Sehen Sie, solche Schuhe müssen Sie kaufen! Solche, sehen Sie? Oder solche, die sind perfekt.”
„Und wo?”, fragte ich.
„Auf dem Priwos.”

Zwischen Irrgarten und Irrglauben

Dazu muss man wissen, dass Odessiten, wann immer man sie fragt, wo es etwas zu kaufen gebe, einen immer zuerst zum Priwos schicken, auf den Riesenmarkt in der Nähe des Bahnhofs. Dort braucht man ungefähr einen halben Tag, um drei Tomaten, ein Kilogramm Kartoffeln und ein paar Socken zu kaufen, weil man zuerst in diesem Irrgarten die Orientierung verliert und danach dem Irrglauben verfällt, Schnäppchen zu finden, in diesem konkreten Fall: besonders günstige Tomaten, Kartoffeln und Socken. Und derweil beginnen schon die Ohren zu schmerzen, weil die Marktfrauen pausenlos brüllen – je älter, umso lauter – und mit jedem zweiten Kunden in Streit geraten, wenn nicht gerade halbnackte Männer rumpelnde Handwagen durch die engsten Gänge schieben und sich mit dem Ruf „Осторожно! Ноги!”* den Weg freikrakeelen.

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(* „Vorsichtig! Füße!”)

Der Glaube der Odessiten an diese Marktwirtschaft ist durch nicht zu erschüttern. Neulich war die Dusche in meiner Wohnung undicht. Das Wasser sickerte unten hinaus und überschwemmte die Fliesen. Ich rief den Klempner, der eigentlich Elektroingenieur ist und die Dusche erst im März repariert hatte. Woher ich weiß, dass er eigentlich Elektromonteur ist? Nun, ich kenne ihn schon länger. Er war ein paar Tage vor Silvester 2008 in meiner Wohnung, um die Heizung zu reparieren. Zunächst hatte ich die Vermieterin angerufen, die wiederum ihren Sohn anrief, der dann aber nur kurz vorbeischaute, weil er 40 Minuten später seinen Zug in den Skiurlaub nach Slowenien besteigen musste. Wenigstens brachte er einen Mann mit, der nicht auf dem Weg in den Skiurlaub war: jenen Elektromonteur, der später mein Klempner werden sollte. Seitdem rufe ich ihn an, wenn ich Probleme habe in der Wohnung. Seine Visitenkarte ist die einzige, die am Kühlschrank klebt. Ich kenne auch keinen anderen Klempner oder Elektromonteur in Odessa.

Mein Klempner kam am nächsten Tag, sagte, er wisse schon, warum die Dusche diesmal kaputt sei, und brauche sich deshalb den Schaden gar nicht anzuschauen, er habe auch schon mit der Vermieterin telefoniert, dann pumpte er sich 65 Griwna von mir, sechs Euro umgerechnet, und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich fahre jetzt zum Basar, bin in eineinhalb Stunden zurück.” Zweieinhalb Stunden später klopfte er, schloss sich mit einer kleinen Tüte, aber ohne Werkzeug im Bad ein und kam nach einer 25 Minuten wieder heraus. Als Nachweis seiner Klempnerkunst ließ er den alten Abfluss vor der Toilette zurück. Dann verschwand er, um sich, wie er sagte, von meiner Vermieterin seinen Lohn zu holen, von der ich mir jetzt noch die 65 Griwna für den neuen Priwosabfluss holen muss. Der ist wirklich schick. Nur leider kann die Dusche noch immer nicht das Wasser halten.

Pumps für Einbeiner

Gestern war ich auf dem Priwos, um abermals Sandalen zu kaufen. Beim Anprobieren saß mein Sohn auf Pappkartons und schaute, wie eine obdachlose und offenbar alleinerziehende Katzenmutter ihr Baby stillte. Am Stand gegenüber lagen einzelne Hochhackige. Als ich die Verkäuferin fragte, ob sie davon leben könne, ob es also viele modebewusste Einbeinige in Odessa gebe, lachte sie laut und sagte: „Sie sind bestimmt Deutscher. Natürlich habe ich unterm Tisch auch den zweiten.  Ich will bloß nicht bestohlen werden.” In diesem Augenblick wäre ich vor Scham über meine Blödheit gern von einem dieser Handwagen überrollt worden. Ich überließ dann meinem Sohn die Wahl der Sandalen.

Die Sprache des Fußvolks

„Das sind die richtigen, endlich, absolut perfekt”, rief die Kindergärtnerin am nächsten Morgen und hätte mich beinahe umarmt. Bis zum Nachmittag hatte sie ein bisschen Deutsch gelernt, vielleicht sprach sie auch bloß Shoesperanto mit mir, so eine internationale Plansprache des Fußvolks, sie rief jedenfalls dreimal: „Suuuper-duuuper!” Mein Sohn strahlte.

Ein paar Deutsche, die in Odessa leben, haben mir bestätigt, dass die Sandalen unmöglich perfekt sein können, wenn der große Onkel vorne rausguckt und beim Gehen im Staub popelt. Aber gut, es ist ja nicht mein Onkel. Alles wäre schön, hätte die Kindergärtnerin mir nicht noch zum Abschied die Visitenkarte eines Sandalenhändlers vom Priwos gegeben und auf meine Füße gezeigt.

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Kolumne: Oleg und das Kolumnistenketchup

ODESSA, UKRAINE Heute hat mich Oleg angerufen. Er war mal wieder extrem aufgeregt, wie er das fast immer ist, wenn er mich anruft. Ich habe so einen Verdacht: Entweder ruft er mich an, um sich aufzuregen, oder er regt sich auf, um mich anzurufen. Zunächst plauderte er ein bisschen über die Hitze in Odessa, dann erzählte er etwas von 23 Klimmzügen an seiner Klimaanlage, wobei ich nicht weiß, ob ich Oleg richtig verstanden habe, irgendwann unterbrach ich ihn und fragte, was er eigentlich wolle.
„Kolumnist, ich hab ‘ne gute Nachricht”, sagte er und machte eine ewige Pause, „’ne verdammt gute Nachricht, ich weiß, wo es Ballpumpen…”
„Mach’s nicht spannend, wo muss ich hin?”
„Lass mich doch ausreden: wo es Ballpumpen gab.”
„Mist. Was ist die gute, verdammt gute Nachricht?”
„Naja, ich habe die letzten zwei bekommen.”
„Toll, dann kannst du mir ja eine Pumpe abgeben”, sagte ich.
„Was bietest du?”
„Hör mal, Oleg, ich bezahle den Preis, den du bezahlt hast, und vielleicht spendiere ich dir noch ein Bier.”
„Vergiss es”, sagte er.
„Wie bitte?”
„Dann behalte ich beide Ballpumpen.”
„Gut, was verlangst du?”, fragte ich. „Sag schon!”
„Zufällig weiß ich, dass der Kolumnist dieses weltberühmte Ketchup…”
„Oleg, das ist gemein. Ich bin durch zwanzig Supermärkte gelaufen, überall in der Stadt.”
„Stell dich nicht so an.”

Im Grunde brauche ich keine Ballpumpe. Ich besitze zwar einen Fußball, er ruht aber seit fünfeinhalb Monaten ungetreten in der Einkaufstüte. Die Ballpumpe ist zum Symbol für Dinge geworden, die ich in Odessa suche, aber nicht finde. Ich habe bislang unter anderem gesucht:

Noch gern erinnere ich mich auch an den Tapeziertisch, den ich als Schreibtisch benutzen wollte, weil mir kein Schreibtisch gefiel, der mir gezeigt wurde. Die Männer, die auf Odessas Märkten Holz zurechtsägen, schauten mich an, als trüge ich ziemlich großes, dickes Brett vor dem Kopf.
„Ich will einen Tapeziertisch”, sagte ich.
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche einen Tisch, um zu tapezieren.”
„Ich verstehe nicht.”
„Egal, ich will den Tapeziertisch sowieso als Schreibtisch benutzen.”
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche eine Holzplatte, die müssten Sie mir sägen, und zwei Böcke, damit die Platte nicht in der Luft schweben muss.”
„Brauchen Sie jetzt einen Schreibtisch oder dieses andere Ding? Und welche Böcke überhaupt? Ich verstehe nicht.”
Als ich mich bei Oleg beklagte, sagte er nur: „Tapeziertische, so was haben wir nicht.”
„Und wie wird bei euch tapeziert?”
„Wir legen die Tapete auf den Boden.”
„Aber der ist doch schmutzig”, sagte ich.
„Herrgott, dann wischt man eben erst den Boden und tapeziert dann.”

Ich werde mich nicht beklagen. Ich habe zuletzt ein paar Wochen in Deutschland gelebt, genauer gesagt: in einer ostdeutschen Kleinstadt mit schlimmer Rasenmäherromantik. Mittag für Mittag zwischen eins und drei, außer natürlich am Wochenende, schoben kurzhaarige Männer in kurzen Unterhemden und kurzen Hosen brummende Ungetüme durch Vorgärten. Nicht nur die Männer, auch die Vorgärten sahen gleich aus: hier ein paar Büsche, dort ein spindeldürres, bulimiekrankes Bäumchen, das kaum Schatten spendet, und ringsum eine akkurate Hecke auf Genitalbereichshöhe. In Deutschland werden sogar Mülltonnen abgeschlossen. Nach meiner Rückkehr habe ich mich gleich wieder ein bisschen in Odessa verliebt.

Ich sehe, wie Männer auf dem Bürgersteig ihr Auto mit einem Schwamm putzen und das Wasser nicht aus einem Schlauch, sondern aus einer alten Wasserflasche holen. Daneben wachsen Gasleitungen aus dem Boden. Ich erfreue mich an der Verkäuferin im Supermarkt, Heldin der Anarchie, die während des größten Kundenansturms vor sich ein Schild mit der Aufschrift „Technische Pause” aufstellt und dann nur einer Beschäftigung nachgeht: Sie versucht nicht einzuschlafen. Ich mache auch wieder Fehler, die ich längst abgestellt hatte. Zum Beispiel rufe ich ein Taxi, um im Regen halbwegs trocken nach Hause zu gelangen, und kriege den Mund nicht mehr zu, wenn die Frau in der Zentrale sagt: „Hören Sie mal, junger Mann, es regnet. Wo soll ich jetzt ein Taxi auftreiben?” Am Strand liegt natürlich noch der Schmutz vom Sommer ’08, wobei ich mich aus gewissen Gründen nicht auf ein Jahrhundert festlege. Ach ja, verziehen sich eigentlich Zimmertüren aller Nationalitäten zwischen Winter und Frühling? Oder ergeht das bloß meinen ukrainischen so?

Nicht einmal der Baulärm stört mich mehr, der mich seit März begleitet. Am Anfang arbeiteten auf dem Hof drei Vierzehnjährige. Ihr Arbeitstag begann um halb eins und endete um acht, was am Wochenende zwangsläufig dazu führte, dass sie hämmerten und stemmten, schleiften und bohrten, während ich Mittagsschlaf machen wollte. Ihre Nachfolger dürften immerhin schon beinahe volljährig sein. Sie fangen noch ein bisschen später an, und wenn ich abends um halb neun frage, ob sie vielleicht Schluss machen könnten, weil meine Kinder schlafen wollten, empfehlen sie mir, deren Tagesablauf einfach umzustellen. Ich habe noch immer keine Ahnung, was sie eigentlich errichten oder vernichten – ich weiß nur, dass ich in den all den Monaten noch nicht einmal eine Wasserwaage oder einen Zollstock gesehen habe. Wahrscheilich würde mich das noch mehr amüsieren, wenn die vielen Steine und Balken, die nach draußen geschafft werden, nicht von dem Teil des Hauses unter meiner Wohnung stammten.

„Was ist nun?”, fragte Oleg. „Kolumnistenketchup gegen Ballpumpe, kommen wir ins Geschäft?”
„Ja.”
„Dann morgen um zehn an der großen Treppe, aber keine miesen Tricks, du kommst allein.”

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Kolumne: Oleg zieht (sich) um

SCHWERIN, DEUTSCHLAND/ODESSA, UKRAINE Ich vermisse meinen Freund Oleg, er fehlt mir, das gebe ich zu. Die ersten Tage nach dem Abschied von Odessa hatte ich geglaubt, Oleg und ich würden uns vielleicht nie wieder sehen, nicht einmal, wenn ich in ein paar Wochen in die Ukraine zurückkehren werde. Wir hatten genug voneinander. Mittlerweile spüre ich mehr und mehr, dass er meinem Leben gut tut – und es meinem Leben nicht gut tut, wenn ich ohne ihn bin. Wir telefonieren jeden zweiten Tag. Abends freue ich mich, dass ich ihn morgens anrufen kann. Fast immer beruhigt es mich, seine Stimme zu hören.

„Kolumnist vermisst, Kolumnist vermisst, Kolumnist vermisst”, sagte Oleg heute Morgen, nachdem er den Hörer abgenommen hatte. „Kolumnist, bitte melden!”
„Privjet!¹ Wie geht’s?”
„Blendend. Und dir?”
„Ich kann nicht klagen”, sagte ich, schwieg ein paar Augenblicke und lauschte der Melodie, die aus Odessa zu mir kam. „Hey, Oleg, du hörst ja die Pet Shop Boys, hast du auch die neue CD gekauft?”
„So ungefähr.”
„Illegaler Download, oder was?”
„Es ist deine CD. Du hattest Recht, tolle Platte, die beste seit Very 1993.”
„Wie kommst du an meine CD?”
„Ich wohne bei dir.”
„Du wohnst in meiner Wohnung?”
„Ja!”

Schlimmer als in Tadschikistan

Ich hatte Oleg einen Notfallschlüssel dagelassen. Falls es in der Wohnung über meiner einen Wasserrohrbruch gäbe, würde ich ungern aus Deutschland herbeifliegen müssen, um aufzuwischen und dem Nachbarn Schläge anzudrohen, sollte er den Schaden nicht bezahlen. Das könnte auch ein anderer, in diesem Fall Oleg, übernehmen.
„Oleg, das war nicht abgemacht, ich habe dir vertraut.”
„Deine Wohnung ist schöner.”
„Ich habe nicht mal einen Fernseher.”
„Jetzt schon.”

Ich atmete zweimal tief durch und ermahnte mich, die Sache nicht allzu spießig zu sehen. Ich sagte mir, es habe Vorteile, dass die Wohnung nicht unbewohnt sei über eine längere Zeit, dass jemand aufpasse, lüfte und das Wasser benutzte. Im Dezember war ich nach drei Wochen zurückgekehrt und hatte eine eiskalte Wohnung betreten. Die Heizung funktionierte nicht. Das Wasser wurde nicht warm. Zwei Tage später hatte ich einen Schnupfen. Ich redete mir auch noch ein, es hätte schlimmer kommen können. Ein Sachse, der in Duschanbe arbeitet, der Hauptstadt Taschikistans, hat mir erzählt, er wasche sein Bettzeug niemals, bevor er nach Deutschland fliegt, weil es üblich sei, dass der Vermieter samt Familie in Abwesenheit des Mieters einziehe. Während ich mich zu beruhigen versuchte, hörte ich, wie Oleg sang.

Oh now look what/you’ve gone and done/You’re creating/pandemonium/That song you sing/means everything/to me/I’m living in ecstasy/My world’s gone made/What did you do?/I’m telling perfect strangers/that I love you/The stars and the sun/dance to your drum/and now/it’s pandemonium

Das Parkett – mein Parkett – begleitete seine Stimme mit einem Knarren, als würde er gerade tanzen.

„Tanzt du gerade?”
„Und wie!”
„Ach, Oleg…”
„Hast du dich wieder beruhigt, Kolumnist?”
„Ja, Oleg, aber sei bitte so nett und räum ein bisschen auf, bevor ich wiederkomme, nicht dass noch deine Bettwäsche herumliegt.”
„Kein Problem”, sagte Oleg.
„Danke.”
„Ich habe das Bett gar nicht neu bezogen.”
„Du schläfst in meiner Bettwäsche?”, fragte ich.
„Ja!”
„Nein!”
„Ich habe auch gar keine Klamotten mitgebracht.”
„Du trägst meine Hemden und Hosen?”
„Nicht nur die”, sagte Oleg und lachte.
„Nein!”
„Doch!”
„Beruhig dich, Kumpelstilzchen.”

Gedopte Moderatorin

Manchmal in diesen Tagen denke ich, es wäre schön gewesen, wenn Oleg nach Schwerin hätte mitkommen können. In der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns finden bis Oktober Rentnerfestspiele statt; die  Bundesgartenschau hat gestern begonnen. Ich habe mir die Eröffnungsfeier im Fernsehen angeschaut. Die Moderatorin redete, als habe sie vor der Sendung zu viel Schlafmohn verspeist. Ich werde diese Bundesgartenschau auf keinen Fall besuchen – eher fange ich an zu twittern.

Oleg würde dieser herangekarrte Blumenkitsch natürlich gefallen. Er ist Ukrainer, und Ukrainer sind kitschverliebt. Geburtstagssträuße sehen aus wie toupiert. Man sieht auch die Blüten vor lauter Plastik nicht. Das Land steckt musikalisch, modisch und wohnlich noch tief in den achtziger Jahren. Zu viele Frauen tragen Tigerdruck, zu viele Männer hören Modern Talking, zu viele Paare kaufen chinesischen Nippes fürs Wohnzimmer.

Der kulturlose Strand

Vor ein paar Wochen habe ich mit Oleg eine Konferenz zur Stadtentwicklung besucht. Es gab einen Arbeitskreis, der für Odessas Strand eine Zukunft entwerfen sollte, vorab allerdings erst einmal zu klären versuchte, wie die Gegenwart ist. Die Männer sollten mit grünen, blauen, roten und gelben Steinchen das Verhältnis von Ökologie, Wirtschaft, Kultur und Soziales am Strand darstellen. Relativ schnell einigte sich die Gruppe auf Ausgewogenheit: 25 Prozent Ökologie, 25 Prozent Wirtschaft, 25 Prozent Kultur, 25 Prozent Soziales. Ein junger Experte aus Deutschland empfahl, nachdem er wild gelacht hatte, die Wirtschaft auf mindestens 50 Prozent zu setzen und auf die roten Kulturwürfel realistischerweise ganz zu verzichten. Er sagte dann noch: „Wenn alles 25 Prozent wäre, wären wir ja nicht hier, um die Zukunft zu planen.”

„Bist du noch dran?”, fragte Oleg. „Ich muss los, ich habe ein Vorstellungsgespräch. Hast du was dagegen, wenn ich noch mal deinen Anzug trage?”
„Ja, Oleg, ja, ich habe etwas dagegen.”
„Hallo? Haaaaaalllloooooooooo?”
„Oleg! Nicht den Anzug!”
„Ei, die Verbindung ist gerade ganz schlecht, Kolumnist, ich hör dich nicht mehr. Wir telefonieren wieder. Mach’s gut! Ach so, wird spät heute Abend, ich geh tanzen, bisschen Frauengucken, wenn du verstehst. Mal schauen, ob sich was ergibt. Ich hätte Lust auf eine Kissenschlacht. Du bist ein echter Freund, kein Würstchen.”²

¹ Hallo
² russisches Sprichwort

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Kolumne: Oleg feiert meinen Geburtstag

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat heute Früh um halb sechs vor meiner Tür gestanden – mit einer hässlichen Torte und einem dämlichen Grinsen. Durch den Spion sah alles, Oleg, Oleggrinsen, Olegtorte, ziemlich aufgequollen aus. Ich öffnete trotzdem.
„Ich wollte unbedingt der Erste sein”, sagte Oleg und schnaufte.
„Das hast du auch geschafft, Glückwunsch. Du kannst die Klingel jetzt loslassen.”
„Ich war schon mal um halb zwei hier, hast wohl gepennt.”
„Wahrscheinlich”, sagte ich.
„War vielleicht ein bisschen zu spät.”
„Oder vielleicht ein bisschen zu früh.”
„Schade.”
„Mach dir keine Sorgen, Oleg, du hast Oma, die seit zwölf Jahren unbesiegte Früh- und Erstgratulantin, besiegt.”
„Echt?”, fragte Oleg.
„Sie wird traurig sein.”
„Also, alles Gute zum Geburtstag, ich wünsche dir ein glückliches Leben, ewige Schönheit, einen reichen Mann mit einem großen … oh Pardon, falscher Text”, sagte Oleg und räusperte sich, „der ist für Irina morgen. Ich wünsche dir Geld, viel Geld, Geld ist das Wichtigste überhaupt.”
„Gesundheit, Oleg, du meinst: Gesundheit.”
„Nee, Geburtstagskolumnist, nee, Geld, ich meine: Geld.”

Ein paar Tage zuvor war ich mit Oleg bei der Ausländerbehörde gewesen, um herauszufinden, welche Dokumente die deutsche Kollegin A. für eine Registrierung braucht. Oleg, seine Kollegin und ich warteten in einem Vorraum mit Loch in der Decke, Holzleiter in der Ecke und einem schweren Schrank, auf dem ein eingestaubter Druckerkarton stand. Ringsum hingen Schreiben auf Ukrainisch, eng bedruckt und für jeden Ausländer unverständlich. Stühle gab es nicht.

Oleg säuft ab

Nach ein paar Minuten durften wir eintreten. Oleg reichte dem Beamten den Reisepass der Deutschen und trug sein Begehren vor, ein bisschen umständlich, aber höflich.
„Und wer sind Sie?”, fragte der Beamte, nachdem er Visum und Stempel studiert hatte.
„Oleg”, sagte Oleg.
„Dann sind Sie niemand. Ich kann Ihnen keine Auskunft geben.”
„Ich will doch nur wissen, welche Dokumente wir…”
„Das habe ich verstanden”, sagte der Beamte. „Aber ich antworte nur dem Direktor der jungen Frau oder seinem Stellvertreter. Auf Wiedersehen.”

Der Mann hatte Oleg gekränkt. Ich bemerkte das, als wir abends zusammen saßen. Oleg versuchte, sich schnellstmöglich zu betrinken, was ihm vortrefflich gelang. Um keine Zeit zu verlieren, schwieg er oft.
„Oleg”, sagte ich nach einer Weile, „du weißt doch, dass du in der Ukraine nichts bist, so lange du keine Millionen hast oder eine Behörde leitest. Ich muss dir doch diesen Hierarchie-Irrsinn nicht erklären, es ist dein Land.”
„Und was bin ich?”
„Du bist Oleg”, sagte ich.
„Eben, ich bin eine drittklassige Witzfigur in viertklassigen Kolumnen, ein Kolumnenkleinkomödiant vom Feinsten.”
„Erstens: zweitklassige Witzfigur, zweitens: drittklassige Kolumnen, drittens: Hauptrolle.”
„Haha, Hauptrolle, haha”, sagte Oleg.
„Ich bin doch deine Marionette, und außerdem lieben die Deutschen dich.”
„Prost!”

Der Mörder ist immer der Dichter

Ich habe Oleg von Stefan Zweig erzählt. Nachdem der österreichische Schriftsteller Tersites veröffentlicht hatte, sein erstes Drama, übernahm Adalbert Matkowsky die Hauptrolle.  Die Uraufführung 1909 am Königlichen Schauspielhaus Berlin wurde allerdings verschoben, weil Matkowsky erkrankt war. Acht Tage später war er tot. Danach schrieb Zweig für Josef Kainz Der verwandelte Komödiant. Kainz war begeistert und versprach, er werde das Stück spielen, so lange er lebe, es passe ihm „wie ein Handschuh”. Er kehrte jedoch krank von einer Gastspielreise zurück und überlebte nicht. Zweig schreibt in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern:

Dass die beiden größten Schauspieler Deutschlands gestorben waren, nachdem sie meine Verse als letzte geprobt, machte mich, ich schäme mich nicht, es einzugestehen, abergläubisch.

Zweig entsagte ein paar Jahre dem Dramatischen, bis sich der Direktor des Wiener Burgtheaters, Alfred Baron Berger, für die Tragödie Das Haus am Meer interessierte. Der Dichter schaute die Liste der Schauspieler durch und war erleichtert. „Gott sei Dank, es ist kein Prominenter darunter!”, rief er aus. In seinen Memoiren schreibt er: „Das Verhängnis hatte niemanden, gegen den es sich auswirken konnte.” Tatsächlich blieben die Darsteller am Leben – dafür starb vierzehn Tage vor Probenbeginn der Burgtheaterdirektor.

Nachdem Zweig 1931 Das Lamm des Armen beendet hatte, bat Alexander Moissi, ihm die Hauptrolle zu überlassen. Zweig lehnte ab, weil er „nicht ein drittes Mal für den größten deutschen Schauspieler der Zeit Anstoß des Verhängnisses sein” wollte. Stattdessen übersetzte er ihm ein italienisches Stück für die Welt-Uraufführung in Wien. Als die Proben beginnen sollten, entdeckte er in der Zeitung die Meldung, der Hauptdarsteller Moissi habe eine schwere Grippe. Zweig traf den Freund schon im Fieberdelirium an. Zwei Tage später war Moissi tot.
„Siehst du, Oleg”, sagte ich und beendete meinen Vortrag. „Es hätte dich schlimmer treffen können. Du lebst. Und jetzt hörst du auf, dich zu besaufen.”

Zwei Stunden später schleppte ich ihn nach Hause.

Sexuelle Vergreisung auf Raten

Oleg überreichte mir die Torte, trat ein und zog die Schuhe aus. Ich schnitt jedem ein Stück ab und kochte Kaffee. Mein Geburtstag bedeutet mir wenig. Gewiss, ich erwarte immer noch etwas von meinem Leben, ich weiß aber auch, dass eine Hochzeit mit der zauberhaften Nicole Kidman, die ich einst erwogen hatte, eher unwahrscheinlich ist, zumal ich einen Sohn mit in die Ehe bringen würde. Wenn ich erwache, fühle ich mich bisweilen uralt. Und ich bemerke an mir überdies eine gewisse sexuelle Vergreisung. So finde ich mittlerweile Frauen, die laut geigen, erotischer als Mädchen, die Haut zeigen.

Immerhin denke ich noch nicht an die Rente. Mein Onkel muss in dieser Woche entscheiden, ob er in sechseinhalb Jahren in Altersteilzeit gehen will. In der Ukraine, wo die Leute nicht wissen, was morgen ist, wirkt Deutschland manchmal verrückt. Jüngst hat mir eine Studentin aus Stuttgart geschrieben, sie komme im Januar 2011 nach Odessa und hoffe, ich könne ihr ein günstiges Hotel empfehlen. Sie wollte sogar die Preise wissen. Gern hätte ich ihr geantwortet: „Liebes Mädchen, spinnst Du? Ich weiß nicht einmal, ob es im Januar 2011 die Ukraine überhaupt noch gibt.”

Dass ich meinen Geburtstag nicht mag, hat vielleicht damit zu tun, dass am 6. April zu viele Männer geboren sind¹, die ich nicht mag: Nik P. (Schlagersänger), Hans Geißendörfer (Regisseur), Gheorghe Zamfir (Panflötenlegende), Kurt Georg Kiesinger (Bundeskanzler) und Robert Kovac (Fußballer), dem ich das verdiente Sonderzeichen über dem letzten Buchstaben schenken würde, wenn ich es denn fände. Wenigstens haben am 6. April Abba den Grand Prix 1974 gewonnen – bezeichnenderweise mit Waterloo.

Die Kaffeemaschine röchelte noch, als das Telefon klingelte.
„Wer ruft denn um diese Uhrzeit an?”, schrie Oleg. „Unfassbar!”
„Sei mal leise”, sagte ich und meldete mich, lauschte und antwortete: „Klar, du bist die Erste, wie immer.”

¹ Recherche: Magdi Aboul-Kheir – danke!

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Kolumne: Oleg und der Щасismus

ODESSA, UKRAINE Es gibt zwei Dinge, die ich Oleg und mir in Zukunft ersparen werde, um unsere Freundschaft nicht noch weiter zu belasten. Vorgestern habe ich mit ihm zum letzten Mal ein Jazzkonzert besucht. Oleg liebt Jazz, er kann sich auch recht schnell begeistern – dafür gibt es sogar Zeugen -, jedenfalls ist er nicht übermäßig kritisch. In unserem letzten Konzert erzählte er mir zwei Stunden lang fortwährend, wie großartig die Musiker seien, er berauschte sich an den Improvisationen und sprach von Magie auf der Bühne, er buffte mich ständig an und fragte, ob ich denn tatsächlich hörte, dass hier ein Weltklasse-Ensemble musiziere. „Ich wünschte, es würde ewig spielen”, sagte er, „ewig, ewig, ewig! So muss das Paradies sein, oder?”
Dann war das Konzert zu Ende. Oleg klatschte genau fünfmal in die Hände, kletterte über mich hinweg, trat zwei anderen Besuchern in der Reihe auf die Füße und sprintete sogleich hinaus. Die Musiker hatten noch nicht die Bühne verlassen, da war er schon mit einem Arm im Mantel. Und er war nicht der Einzige. Mit dem letzten Ton hatte eine Massenflucht eingesetzt.

Ich habe versucht, Oleg zu erklären, es sei unhöflich, ja respektlos gegenüber den Künstlern, vor ihnen zu verschwinden. Oleg sah das anders, wie genau, weiß ich leider nicht. Wenn ich ihn kritisiere, verflucht er mich neuerdings auf Ukrainisch. Er spricht die Sprache nur schlecht, es reicht aber, um mich zu beleidigen. Nach einem dreiminütigen Redeschwall mit vielen Zischlauten fragt er jedes Mal auf Deutsch: „Kapiert, kleiner, cholerischer Kolumnist?”
„Das nimmst du zurück!”
Kleiner, cholerischer Kolumnist ist harmlos, und das wüsstest du auch, wenn du den Rest verstanden hättest.”

Ich werde Oleg, zweitens, nie wieder bitten, etwas zu reparieren. Meine Badezimmertür ist kaputt, genauer gesagt, sie ist am meisten kaputt, manch anderes in meiner Wohnung ist nur kaputt. Die Duschkabine tropft, Rohre wackeln, und wenn der Warmwasserboiler nachts anspringt, schrecke ich hoch, weil die Fensterscheibe in der Schlafzimmertür vibriert, als sei ein Orkan bei mir eingebrochen. Nein, ich gewöhne mich nicht daran, ich finde mich nur damit ab, indem ich gegen mich selbst argumentiere und mich mit dem härtesten Vorwurf konfrontiere, der einem Mann mit Wohnsitz Odessa/Am Arsch der Zivilisation einfällt, wenn er auf einen Nörgler wie mich trifft: „Deine Sorgen möcht’ ich haben, Deutscher.”

Handwerker Oleg

Aber dass sich die Klotür nicht schließen lässt, irritiert mich in gewissen Augenblicken gewaltig. Mein ganzes Leben lang, egal wo auf der Welt, haben sich Badezimmer zusperren lassen. Ich habe Rechte, und ich denke auch an meine Umwelt. Da ich nur einen Hammer besitze, rief ich Oleg an.
„Ich komme”, sagte er. „Щас¹.”
Er kam nach zwei Stunden und trank drei Biere. Zwei Tage später hatte er sein Werkzeug vergessen. Eine Woche später hätte er die Tür fast repariert, wäre nicht überraschend etwas dazwischen gekommen. Ich hatte genug.
„Oleg, gib mir einfach die Nummer eines Handwerkers. Ich kümmere mich selbst.”
„Щас, Klolumnist”, sagte Oleg, „ich ruf dich gleich zurück.”
Nach zwei Tagen rief ich wieder an. „Oleg, was ist jetzt?”
„Щас.”

So ging das eine Woche. Dann verlor ich die Geduld und stellte ihn zur Rede.
„Ich dachte, щас heißt jetzt oder gleich“, sagte ich.
„Wichtig ist nicht, was щас heißt, wichtig ist, was щас bedeutet.”
„Und was bedeutet nun щас?”
„Wenn ein Odessit, ach was, ein Slawe sagt, er mache etwas щас, dann meint er: jetzt oder gleich, in zehn Minuten, in fünf Stunden, morgen oder irgendwann. Natürlich kann er das Wort auch ironisch gebrauchen, dann meint er: Das mache ich auf keinen Fall, niemals, leck mich am Arsch, du kannst mich mal.”
„Und ich welcher Bedeutung hast du es gemeint?”
„Darüber muss ich erst nachdenken”, sagte Oleg und lachte. „Щас.”

Cholerische Anfälle im Supermarkt

Es hat eine Zeit gegeben, da gefiel mir das Zeitlupenleben der Odessiten, ich habe jedenfalls beim Blättern in meinen Aufzeichnungen eine Kolumne gefunden vom März 2008. Damals schrieb ich:

Der Müßiggang in Odessa ist ansteckend. Nie in meinem Leben bin ich ruhiger gewesen. Ich esse langsamer. Ich spreche langsamer. Ich denke noch langsamer. Ich. Schreibe. Langsamer. Ich bewege mich langsamer. Wenn ich das erste Mal im Schwarzen Meer bade, werde ich wahrscheinlich aus Faulheit ertrinken.

Vermutlich sind diese Sätze das Positivste, das mir je zu dieser Stadt eingefallen ist. Seitdem geht es bei mir nur noch bergab mit Odessa. Zu meiner Entlastung kann ich anbringen, dass ich den Text als Odessaurlauber verfasst hatte. Ich wusste noch nicht, dass man auch genervt sein kann von dieser Behäbigkeit. Mittlerweile möchte ich dreimal pro Woche im Supermarkt die Regale umschubsen, weil ich zehn Minuten an der Kasse warte, obwohl nur eine Frau mit zwei Wasserflaschen und einer Torte vor mir steht. Mindestens fünfmal am Tag höre ich das Wort щас. Selbst mein Sohn sagt es inzwischen, wenn er nicht vom Töpfchen herunter will.

Ohne Plan

Oleg hat sich entschuldigt und als Wiedergutmachung meinem Sohn einen Baukasten geschenkt. Die meisten Leute ahnen nicht, was sie Vätern antun, wenn sie dem Sohn so etwas schenken. Für Oleg gilt diese Unschuldsvermutung nicht. Er hat sich eine besondere Gemeinheit einfallen lassen. Es handelt sich um ein ukrainisches Auto samt Konstruktionsplan auf Ukrainisch. Mein Sohn ist sauer auf mich, weil die Räder ständig abfallen. Ich bin noch auf der Fehlersuche. Morgen zerlege ich das Auto zum dritten Mal. Oleg will mir unbedingt helfen.

„Sag mal, Oleg, kann es sein, dass der Odessit, nein, der Slawe, ach was, der ganze Oleg ein ziemlich widersprüchliches Wesen ist?”, fragte ich, bevor er sich verabschiedete.
„Was meinst du?”
„Jazz und щас, einerseits Hektik und Eile, andererseits grenzenlose Langsamkeit – ist dir schon mal aufgefallen, dass das seltsam ist?”
„Nö.”
„Ich bin nämlich gerade nicht sicher, ob es auf dieser Welt einen schlimmeren, unerträglicheren Menschentyp gibt.”
Oleg schaute mich an und sagte: „Doch, glaub schon.”

Die Badezimmertür halte ich bis auf weiteres mit einem Gürtel fest.

¹ sprich: sschass

Kolumne: Oleg und die Mafia

ODESSA, UKRAINE „In deinem Haus wohnt übrigens die Mafia”, hat mein Freund Oleg gestern gesagt.
„Die Mafia?”
„Ja, die Mafia.”
„Bist du sicher?”, fragte ich.
„Kein Zweifel, dritte Etage, direkt über deiner Wohnung.”
„Ach du Scheiße, die Mafia”, sagte ich.

Oleg schaute zur Decke hinauf und lauschte, er hielt sogar den Atem an, dann zog er mich zum Fenster und deutete auf den Parkplatz. Ein Mann polierte mit einem Lederläppchen die Motorhaube, er rauchte dabei und telefonierte.
„Der hat jetzt schon das dritte neue Auto”, sagte Oleg. „Im August fuhr er einen Chevrolet, im November hat er sich einen Land Rover gekauft, und seit ein paar Tagen gehört ihm dieser Jeep.”
„Der Kerl sieht gar nicht aus wie einer von der Mafia”, sagte ich.
„Das ist ja der Trick!”

Ich habe mal ein Interview eines Polizisten gelesen, der die Russenmafia in der deutschen Hauptstadt jagt. Der Mann heißt Bernd Finger und ist Leitender Kriminaldirektor im Landeskriminalamt in Berlin, Leiter der Abteilung 4, Organisierte Kriminalität, Qualifizierte Banden- und Eigentumskriminalität, Organisierte Gewalt- und Rotlichtkriminalität. Finger sagte:

In jeder Verbrechervereinigung gibt es Ritualisierungen. Die äußerlichen – Pelze, Goldkettchen, vergoldete Gebisse, das Zurschaustellen von Reichtum – findet man meist nur an Leuten, die das für nötig halten, also: die Handlanger. Der eigentliche kriminelle Profiteur scheut sichtbare Merkmale, er hält sie nicht für professionell, weil es Teil seiner Abschottung ist, eben nicht aufzufallen.

Ich erinnere mich noch, dass der oberste Mafiagegner Deutschlands gern in Italien Urlaub macht. Humor hat der Mann also. Mein Mafianachbar ist wohl auch ein witziger Kerl. Er wäscht sein Auto selbst, wahrscheinlich ist das Teil der Tarnung. Als einziger Hausbewohner grüßt er mich, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Ich soll offenbar nicht schlecht von ihm denken. Neulich hat er sich von mir sogar Milch geliehen. Ich finde, es gibt kaum eine bessere Tarnung. Welcher Mafiosi borgt sich schon Milch?

Die gestiefelte Krise

Wenn ich mich nicht täusche, ist mittlerweile jedes zweite Geschäft in Odessas Zentrum eine Boutique. Die andere Hälfte besteht aus Schönheitssalons und Juwelieren. Die Boutiquen sind kaum voneinander zu unterscheiden. Man sieht: drei schöne Handtaschen, vier schöne Stiefelpaare, fünf schöne Verkäuferinnen, zwei unschöne Wachleute – und mit viel, viel Glück auch mal eine schöne Kundin. Ich habe immer gedacht, der Sinn eines Geschäfts sei es, Umsatz zu machen und Geld zu verdienen. Es fällt mir schwer, bei dieser Form von Unternehmertum nicht an Geldwäsche zu denken.

„Oleg, zeig mir die Mafia, ich will sie sehen”, sagte ich.
„Hast du Geld?”
„Geht so.”
„Das reicht nicht”, sagte Oleg.
„Ich kann so tun, als hätte ich Geld.”
„Gehen wir, Don Kolumneone.”

Ich kenne mich in Odessa Nachtleben nicht aus. Ich weiß, wo ich ein Bier trinken kann, und könnte ein paar Restaurants empfehlen. Aber das ist keine Leistung, denn in Odessa kann man fast überall gut essen. Ich habe in dieser Stadt noch nicht ein einziges Mal getanzt.

Kolumnistenkacker ohne Kultur

Oleg brachte mich ins Vis-a-Vis. Das Vis-a-Vis ist ein Casino mit angeschlossener Diskothek oder umgekehrt, jedenfalls liegt es in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße. Ich gab meine Jacke ab, stürzte auf den letzten freien Tisch zu und wartete auf den Kellner.
„Guten Abend, 150 Griwna”, sagte der Kellner.
Ich verstand nicht. „Guten Abend. Wieso?”
Oleg trat gegen mein Knie und flüsterte: „Klappe, Kolumnist.” Dann bezahlte er.
„Der Tisch kostet Geld?”, fragte ich. „Und was kommt als nächstes? Bezahlen wir für Messer und Gabel?”
„Hör mal, Kolumnistenkacker, du bist nicht bei McDonald’s”, sagte Oleg. „Habt ihr Deutschen denn gar keine Kultur?”

Noch nie in meinem im Leben hatte ich so viele Schönheiten auf so wenigen Quadratmetern gesehen, so lange Beine in so kurzen Röcken, so große Brüste in so engen Oberteilen. Mein erster Gedanke war: Diese Frauen müssen einem Labor entstammen. Männer waren auch da, vor allem glatzköpfige, dickbäuchige, aufgedunsene Typen und solche wie ich, denen das noch bevorsteht.
„Gefallen dir die Frauen?”, fragte Oleg.
„Geht so.”
„Das reicht doch.”
„Was machen die eigentlich?”, fragte ich. „Haben sie Arbeit?”
„Natürlich arbeiten sie”, sagte Oleg und brüllte ein Lachen, „aber nur nachts.”
„Wie Dracula.”

Oleg bestellte auf meine Rechnung Wodka, pfiff vor sich hin und wippte mit den Füßen. Hin und wieder schaute er mich an und zwinkerte mir komplizenhaft zu.
„Wo ist die Krise?”, fragte ich. „Ich sehe sie nicht.”
„Wo soll sie sein? Ich habe noch nichts gehört von Massenentlassungen oder Kurzarbeit bei der Mafia.”
Oleg ging zur Tanzfläche und verschwand in einem Knäuel halbnackter Mädchen. Überall flackerte Licht. Die Musik war so laut, dass ich meine Gedanken nicht verstehen konnte. Meine Finger trugen Spuren der verspeisten Ente und glänzten. Ich stierte vor mich hin, ich schwitzte, knöpfte mein Hemd ein Stück auf, fläzte mich in den Sessel und streckte die Beine. Sicher sah ich aus wie ein dickeiiger Sextourist.

Das letzte Territorium

„Das ist Larissa”, sagte Oleg und setzte sich wieder. „Du musst ihr nur einen Drink spendieren, dann verbringt sie die Nacht mit dir, nur einen Drink, hörst du?”
„Wie kommst du darauf, dass ich eine Frau brauche?”
„Du siehst so aus.”

Larissa trug einen Strickpullover mit Elchgeweih auf der Brust, Turnschuhe und Jeans. Sie schaute mich an und erzählte mir etwas, das ich Sekunden später vergessen hatte. Ich schaute sie an und erzählte ihr etwas, das wir beide Sekunden später vergessen hatten. Larissa war äußerlich und intellektuell eher unscheinbar, wir passten eigentlich gut zusammen.

„Oleg, und wo ist jetzt die Mafia?”, fragte ich.
„Ach kleiner Kolumnist”, sagte Oleg. „Zitat: Was Bedeutung und Bekanntheitsgrad angeht, stellt nach Tschernobyl die ukrainische Mafia den zweiten Faktor dar. Mafia sind nicht nur die Leute, die in Prag auf Ladenbesitzer schießen oder in der Budapester Innenstadt Autos demolieren. Mafia – das sind prinzipiell alle. Korruption als Dauerzustand aller sozialen Beziehungen. Zitat Ende, Juri Andruchowitsch, Das letzte Territorium, Seite 120, ungefähr in der Mitte. Was ist jetzt mit Larissa?”
„Hör mal, es ist nett von dir, dass du dich um mich kümmerst, ich weiß das auch zu schätzen, wirklich, ich nehme es dir nicht übel”, sagte ich. „Aber ich habe schon die Liebe fürs Leben.”
„Bist du sauer?”
„Nein, aber wenn ich schon an diesem Ort einer Frau ein Getränk spendieren soll, und ich meine: nur ein Getränk spendieren, dann schlepp doch bitte nicht die mausgrauste Maus an, die es in diesem Loch gibt.”

Olegs Vater und die Frauen

Oleg raunte Larissa etwas ins Ohr, die sich sogleich erhob und verschwand, er lächelte fein und und schaute mir tief in die Augen. „Kolumnist, ich weiß ungefähr, was du verdienst in Odessa, viel ist das wahrlich nicht. Diese mausgraue Maus ist die einzige, die du anlocken kannst”, sagte er. „Du bist sauer.”
„Ich bin nicht sauer, ich bin verheiratet.”
„Na und, das ist mein Vater auch. Und mit wem tanzt er dort hinten? Das ist bestimmt nicht meine Mutter.”
„Die drei Muskelmänner, sind das seine Freunde oder Leibwächter?”
Oleg überlegte einen Augenblick, er trank seinen Wodka aus und bestellte Nachschub, dann sagte er: „Sowohl als auch. Gehören zur Familie.”

Kolumne: Mein Sohn und der Miauismus

ODESSA, UKRAINE Mein Sohn hat seine Kindergärtnerin enttäuscht, er ist bei ihr unten durch. Allerdings dürfte er jetzt ahnen, wie ich mich fühle, wenn ich dieser Frau begegne. Die Erzieherin mag mich nicht, und zwar aus drei Gründen: Erstens verstehe ich selten, was sie auf Russisch erzählt, weshalb sie mit mir in einer Babysprache reden muss, die ins Deutsche übersetzt ungefähr so klingt: „Er kein Breichen happahappa, obwohl sehr mmmmhhhh, Papa dududu machen, ja?” Zweitens spreche ich noch schlechter, als ich verstehe, weshalb sich meine russischen Rechtfertigungssätze anhören, als spräche ich mit einem Ausländer: „Du mit ihm müssen haben Geduld.” Drittens finde ich erstens und zweitens amüsant.

Mein Sohn hatte heute Fasching. Er sollte ein Gedicht aufsagen und wie eine Katze aussehen. Alle Kinder sollten sich als Katze verkleiden, ich finde ja, der Fasching war früher demokratischer. Als ich klein war, durften wir uns anziehen und anmalen, wie wir wollten, und ich bin in der DDR aufgewachsen. Ich weiß nicht, wie Leute darauf kommen, eine solide Diktatur, ohne allzu viel Gewalt also, sei weniger anstrengend als die Demokratie. Ich treffe zum Beispiel dauernd Taxifahrer, die sagen: „Die Weißrussen haben Lukaschenko. Die Russen haben Putin. Und wir? Warum haben wir Juschtschenko?”

Ich bin in drei Geschäften gewesen, nirgends gab es ein Katzenkostüm. Die Kindergärtnerin steckte mir daraufhin die Telefonnummer eines Verleihs zu. Dort gab es noch Katzenkostüme, nur leider hätte ich eine Stunde mit der Marschrutka in einen Vorort von Odessa fahren müssen. Ich tue ja viel für meinen Sohn, ich bin kein schlechter Vater, ich würde, falls von so etwas die Rede sein könnte, auch auf meine Karriere verzichten, wenn er das verlangte. Aber ich sitze nicht zwei Stunden in einem schaukelnden Bus wegen eines Katzenkostüms.

Zettel von der blöden Kuh

Die Proben für das Faschingsprogramm heute hatten vor drei Wochen begonnen. Mein Sohn brachte einen Zettel mit nach Hause, auf dem ein Gedicht stand, besser gesagt, ich vermutete, es sei ein Gedicht, es reimte sich ja. Den Inhalt verstand ich nicht. Jedes Mal, wenn ich meinen Sohn abholte, sagte die Kindergärtnerin: „Er kann seinen Text noch nicht.” Jedes Mal dachte ich: „Blöde Kuh, wenn es so wichtig ist, dass er den Text auswendig kann, dann lern halt mit ihm. Er verbringt täglich acht Stunden mit dir. Ich sehe ihn nicht mehr als drei.” Jedes Mal versprach ich, wir würden zu Hause üben.

Wir haben natürlich nicht geübt. Mein Sohn weigerte sich, er hatte überhaupt keine Lust – und ich noch viel weniger.
„Will ich nicht”, sagte er. „Merk ich mir sowieso nicht.”
„Willst du nicht?”, fragte ich. „Merkst du dir sowieso nicht, oder?”
„Nee.”
„Gut.”

Zwischendurch war der Zettel mit dem Vierzeiler verschwunden. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn versteckt hatte oder mein Sohn. Jedenfalls wurde er nicht vermisst.
Ich habe früher auch keine Gedichte lernen können. Von meiner Schulzeit sind mir nur drei sehr zerfetzte Gedichtfetzen geblieben:

Noch da, John Maynard?
„Ja, Herr, ich bin’s!”

Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
„Den Dank, Dame, begehr ich nicht!”

Walle! walle

Mehr ist da nicht. Und übrigens bin ich froh, dass mein Sohn einen starken Willen hat.

Vor ein paar Tagen hatte sein Kindergartenkumpel Kolja Geburtstag. Kolja ist schon ein ziemlich robuster Kerl für seine vier Jahre, er lässt sich nichts gefallen, er steht auch nicht so auf Diskussionen. Als Geburtstagskind durfte er sich etwas wünschen. Kolja wünschte sich, dass jedes Kind einen Panzer malt. So kam es auch. Der Kindergartengruppenspielzeugpanzer stand Aktmodel. Mein Sohn machte nicht mit.

Ungefähr in jeder zweiten Stunde erzählt mir meine Russischlehrerin, ich müsse unbedingt mit meinem Sohn diese und jene Militärausstellung besuchen. Als ich mich einmal beklagte, es fehle in Odessa an intellektuellen Genüssen und Kultur im öffentlichen Raum, stritten wir uns. Am nächsten Tag brachte sie triumphierend eine Zeitungsseite mit. Auf der Seite waren Messen angekündigt – eine Yachtmesse, eine Schmuckmesse, eine Pelzmodenmesse, eine Fliesenmesse und eine Messe für Autozubehör.

Oscar vs. Fasching

Ich habe meinem Sohn ein Tigerkostüm gekauft, ich dachte, das sei schon in Ordnung, eine Raubkatze ist schließlich auch eine Katze. Leider war ich der einzige, der so dachte. In der Ukraine hat der  Kindergartenfasching einen höheren Stellenwert als die Oscar-Verleihung in den USA. Die anderen Eltern sprachen kein Wort mit mir und schauten durch mich hindurch. Die Erzieherin sagte: „Katze miau, Tiger krrrrrr – großer Unterschied.”

Alle Kinder trugen nacheinander ihren Vers vor. Mein Sohn stand ganz hinten, er kam als letzter dran. Ich habe das Unheil also kommen sehen. Als er an der Reihe war, schwieg er. Ich sah, wie er überlegte, er zupfte aus Verlegenheit an seiner Hose herum, wie ich es früher auch getan hatte, er zog sie hoch, obwohl sie perfekt saß, er gab sich alle Mühe, irgendwo in seinem Gehirn ein Stück des Vierzeilers zu finden. Aber dort war ja nichts. Nachdem er das eingesehen hatte, gähnte er, spielte mit seinem Schwanz und grinste auch noch frech. Souflieren und helfen konnte ich natürlich nicht. Dafür hätte ich das Gedicht lernen müssen.

Aber er sang wie Tom Jones und tanzte wie Fred Astaire. Niemand tanzte wie mein Sohn!

Mich hat er nicht enttäuscht. Ich bin stolz, denn er kommt nach mir. Wahrscheinlich wird er seinem Vater die Schuld geben für das Gedichtdesaster, wenn die Kindergärtnerin ihn verhört. Ich habe es früher nicht anders gemacht.

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