Putin kritisiert Odessa-Blog (fast)

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ODESSA, UKRAINE Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin kritisiert im Gespräch mit der französischen Zeitung Le Figaro die Berichterstattung der westlichen Medien über den Kaukasuskonflikt.

Wissen Sie, die Fragen, die die Pressefreiheit in Russland betreffen, verwundern mich immer mehr. Insbesondere gerade nach den Ereignissen in Südossetien und Abchasien.

Ein interessierter Beobachter musste bemerkt haben, wie geschlossen die gesamte freie Presse unserer westlichen Partner geschwiegen hat, als bei so manchen der falsche Eindruck entstand, dass die georgische Aggression mit einem positiven Resultat enden könnte. Die zwei Tage, als es noch nicht klar war, womit das enden kann, haben alle geschlossen, wie auf Kommando, geschwiegen. Genauso geschlossen und wie auf Kommando – und ich denke, dass es gerade auf ein Kommando geschehen ist – fingen alle an, Russland der unverhältnismäßigen Gewaltanwendung zu beschuldigen. Das gilt nicht nur für die europäische, sondern auch für die amerikanische Presse.

Das gesamte Interview in deutscher Übersetzung lässt sich nachlesen bei Ria Novosti oder Krusenstern.

Kolumne: Meine Nächte als Gerhard Schröder

ODESSA, UKRAINE Ich will nicht, dass Gerhard Schröder im nächsten Jahr Kanzler wird, ich bin gegen eine dritte Amtszeit des Hannoveraner Hengstes, obwohl ich weiß, dass die Alternative Angela Merkel heißt. Frank-Walter Steinmeier, der sozialdemokratische Außenminister, ist ja bloß ein Strohmann. Noch am Wahlabend, gleich nach seinem Triumph, würde er Schröder vorschlagen und abermals dessen rechte Hand im Kanzleramt werden. Er ist kein Mann für die erste Reihe.

Mir ist Schröder schon jetzt unerträglich allgegenwärtig; es hat gewiss damit zu tun, dass er wieder kräftig mitmischt. Er verteidigt Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin im Kaukasuskonflikt und will im bayerischen Landtagswahlkampf die CSU besiegen. Ich verkrafte das nicht. Ich träume oft von Schröder, ich kann das nicht verhindern. Schröder steht jeden Abend an meinem Traumzaun und schreit, wohl nicht mehr ganz nüchtern: „Ich will hier rein!” Noch unangenehmer ist, dass ich wie Schröder bin. Nachts schlüpfe ich in die Schröderrolle. Das liegt zweifelsohne an den einhundert Tagen, die ich nun als oberster Odessit der Familie im Amt bin. Im Traum verteidige und erkläre ich meine ersten Entscheidungen. Die Schonfrist ist ja vorbei. Jetzt wird abgerechnet. Ich muss mich an meinen Versprechen messen lassen.

“Basta!”

Jedes Mal träume ich mich durch die ersten einhundert Tage in Odessa. Als die zwei anderen Mitglieder der Familie und ich zur ersten Sitzung zusammenkommen, sage ich als Chef der Exekutive: „Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen.” Ich spreche auch unbequeme Wahrheiten aus und kündige Reformen an, ich will verkrustete Strukturen aufbrechen und den Haushalt konsolidieren. Ich erinnere mich an meine Worte genau: „Die Wochenarbeitszeit wird steigen müssen. Den Mittagsschlaf unter der Woche werden wir streichen. Basta!”

In den nächsten Wochen setze ich dies mit meiner Richtlinienkompetenz auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen durch, weil es unvermeidlich ist, um nicht auf Kosten der nächsten Generation zu leben. Für so etwas gibt es natürlich keinen Beifall. Mehr als einmal stehe ich vor einem Misstrauensvotum. Mehr als einmal muss ich auch mit Rücktritt drohen.

Gleich am zweiten Tag habe ich einen Kassensturz angeordnet. Alle Ausgaben sollten auf den Prüfstand. Mein Ziel war und ist es, im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Mit dem Schuldenmachen muss Schluss sein; das ist für mich eine Frage der Generationengerechtigkeit. Mich selbst schone ich selbstverständlich nicht, auch mein Budget wird beschnitten. Zum Beispiel senke ich sukzessive die Aufwendungen für Sprit (Auto und Seele). Ich gehe häufiger zu Fuß und trinke mehr Tee.

Keine Glotze

Im Traum halte ich flammende Reden: „Ich weiß, wo ich herkomme”, schreie ich mit heiserer Stimme. „Und wer mich kennt, weiß, dass ich, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, meine ganze Kraft für die soziale Gerechtigkeit einsetze.”

Ich kaufe ein, mache die Wäsche und schütze insgesamt die innere Sicherheit. Ich habe ja auch versprochen, meine Stammwählerin zu entlasten und die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu verwirklichen. Natürlich habe ich auch gleich am ersten oder zweiten Tag im Amt ein Investitionsprogramm aufgelegt, um die Infrastruktur zu verbessern. Das neue Ehebett war nur der Anfang. Ich werde das Schlafzimmer weiter modernisieren. Ich bin überzeugt, dass sich das auszahlt. Die Geburtenrate wird steigen. Ich habe auch den Fernseher abgeschafft. Ich brauche nur „Segodnya” und „Argumentü i Faktü”, aber keine Glotze.

Heute Morgen habe ich verschlafen, ich war wohl ein bisschen amtsmüde, ich hätte Oleg zum Frühstück im Café treffen sollen. Stattdessen klingelte er mich aus dem Bett, kochte in der Küche Kaffee, brachte mir eine Tasse und weckte mich. Ich war noch einmal eingeschlafen, gab gerade wieder ein Interview und erzählte von meiner Mutter, die mich in schwerer Zeit groß gezogen hat.
„Trink erst mal den Kolumnistenkaffee, ist extra stark”, flüsterte Oleg.
„Die wollen mich fertig machen”, sagte ich.
„Wer?”
„Alle.”

Oleg als Gutachter

Ich nahm den ersten Schluck, setzte mich hin, war nicht länger verschrödert und sagte: „Oleg, ich bin jetzt einhundert Tage in Odessa. Bist du zufrieden, wie ich die Familie führe? Sei ehrlich.”
Oleg rückte näher, so dass seine Wimpern fast mein Kinn berührten, er drehte den Hals und starrte zu mir hinauf, schwieg einen Augenblick und schüttelte den Kopf. „Ich will mich nicht in deine inneren Angelegenheiten einmischen”, sagte er schließlich. „Aber kann es sein, dass die Kolumnistennasenhaare in Odessa schneller wachsen?”
„Ist das deine Bilanz?”
„Die Kolumnistennase hat den Filter verstärkt”, sagte Oleg. „Der alte Charles Darwin wäre stolz auf dich. Du hast eine absolute Anpassernase, du bist ein Wunder der Evolution. Die Nase schützt dich vor gesundheitlichen Schäden.”

„Was meinst du?”, fragte ich.
„Liest du denn keine Zeitung, die Segodnya zum Beispiel? Odessa ist die zweitschmutzigste Stadt der Ukraine.”
„Das kann nicht sein”, sagte ich.
„Das sagt die Stadtverwaltung auch.”
„Die Messung muss falsch sein”, sagte ich.
„Das sagt die Stadtverwaltung auch.”

Oleg nahm seine Wimpern wieder von meinem Kinn. Er lächelte. Dann sagte er: „Ich gratuliere, du bist ein echter Odessit.”

Nachtrag, 22.05: Mein Kolumnistenkollege Axel Scherm, der nur unwesentlich schlechter golft als Tiger Woods, aber wesentlich witziger ist, hat mich in den Kommentaren darauf hingewiesen, dass zumindest der erste Absatz meiner Kolumne kabarettreif ist. Ich empfehle mal zu schauen, wie sich die “Anstalt” im ZDF gestern Abend Gerhard Schröder gewidmet hat. Danke, lieber Axel.

Kolumne: Oleg und die Alpha-Blogger

ODESSA, UKRAINE Warum rede ich überhaupt noch mit meinem Freund Oleg? Gestern habe ich ihn gefragt, wie das mit meinem Auto sei. Ich habe jetzt ein Visum, ich muss die Ukraine also nicht mehr verlassen, weil die Neunzig-Tage-Frist für Touristen hinfällig ist. Mein Auto aber muss eigentlich nach sechzig Tagen aus dem Land verschwunden sein, das habe ich mir sagen lassen. Ich wollte nur wissen, ob mein Visum möglicherweise an der Sache etwas ändert. Oleg ist Ukrainer, er muss die Rechtslage kennen.
Er hat gesagt: „Die Kolumnistenkarre ist relativ legal in der Ukraine.”

„Relativ legal” – was soll bedeuten? Nimmt die Polizei mein Auto mit und lässt mich laufen? Oder nimmt sie mich mit und lässt das Auto fahren? Oder muss ich vielleicht nur die Räder abschrauben?
„Relativ legal ist gar nicht schlecht”, hat Oleg gesagt.

Morgen erste Blogsitzung

Ich frage mich, warum alles so kompliziert geworden ist. Oleg lässt mein Odessa-Blog inzwischen von Spionen beobachten, die bei Google arbeiten, ich wollte das gar nicht. Ich glaube, Oleg übertreibt es langsam, er steigert sich da in etwas hinein. Vor Wochen wusste er noch nicht, dass es das Internet überhaupt gibt, jetzt liest er diese Analysen, mischt sich ein und kennt alle Alpha-Blogger in Deutschland und der Ukraine samt Lebenslauf. Er hat auch noch angefangen, Helmut Markwort zu bewundern, ich weiß nicht, ob sich das noch stoppen lässt.

Morgen haben wir unsere erste Blogsitzung. Oleg will mit mir besprechen, was in der nächsten Woche veröffentlicht wird, er meint, wir müssten Themen setzen, er erwartet Vorschläge von mir. „Du reagierst zu viel, du musst mehr agieren”, hat er gesagt. Als ich guckte wie eine Kuh mit Darmwind, rief er: „Faktü, Faktü, Faktü – und immer an die Leser denken!”

In jeder freien Minute sichtet Oleg, was seine Spione aus meinem Odessa-Blog zusammentragen. Sie berichten angeblich, dass die Absprungrate zu hoch ist und ich viele neue Besucher gleich wieder in den ersten zehn Sekunden verliere. Vorerst will Oleg noch auf ein Relaunch der Seite verzichten, das könne man immer noch tun, hat er gesagt, er glaubt, Bilder würden auch schon einen gewissen Effekt erzielen und mich retten.

Zwischen Wowereit und den Pet Shop Boys

„Und wo wir gerade bei der Fehlersuche sind”, sagte er. „Den asiatischen Markt hast du bisher auch nicht erobert – nur ein Leser aus Taiwan, das ist eindeutig zu wenig.”
„Ich kenne keinen Taiwanesen”, sagte ich.
„Das ist egal, Kolumnist, in Asien liegt die Zukunft. China und Indien sind bald Weltmächte. Wenn nur einer von hundert Chinesen oder Indern dein Blog liest, können dich die Alpha-Blogger mal gern haben.”
Oleg will außerdem, dass das Blog mehr Romantik und Zärtlichkeit bekommt wegen der Frauen, denn Frauen, auch das haben die Spione offenbar herausgefunden, stünden bislang kaum auf mich, also eigentlich überhaupt nicht, die spürten nichts bei mir, null. Was das Scharfmachen von Frauen betrifft, liege ich zwischen Klaus Wowereit und den Pet Shop Boys.

Es gibt Dinge, da bin ich empfindlich, sehr empfindlich.
„Was soll das heißen?”, schrie ich.

„Ganz ruhig, Kolumnist, du bist nur kein Frauentyp”, sagte Oleg. „Du bloggst zu männlich.”
„Ich bin ein Mann.”
„Schreib einfach mal eine Kerzenscheinkolumne.”

Ich habe schon zugestimmt, dass demnächst eine Sushi-Kolumne von mir erscheint, um erst mal Japan klarzumachen. Eine Kolumne zu Ehren Buddhas – für Bangladesch, Bhutan, Indien, die Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka, Nord- und Südkorea, Indonesien, die Philippinen, Brunei, Vietnam, Osttimor und Malaysia – ist auch versprochen. Aber eine Kerzenscheinkolumne schreibe ich nicht auch noch.

„Dein Erfolg in der Ukraine ist schon ganz ordentlich. Darauf können wir aufbauen”, sagte Oleg noch und zeigte mir seine Unterlagen: 21 Besuche, 24 Minuten Besuchszeit. Wenn ich nicht aufpasse, ergeht es mir wie den Scorpions, die im Osten Europas erfolgreicher sind als in Deutschland. Ich werde so etwas wie der Klaus Meine der deutschen Blogosphäre.

Schweißausbrüche in der Nacht

Ich weiß nicht, was 21 Ukrainer durchschnittlich 24 Minuten in meinem Blog treiben. Vielleicht sind sie wirklich Leseratten oder suchen den Blick von außen auf ihr Land. Vielleicht müssen sie die Texte auch erst übersetzen und brauchen deshalb etwas länger.

Vielleicht aber stehe ich auch schon unter Feindbeobachtung.

Seit Oleg mich und mein Blog ausspionieren lässt, schlafe ich schlecht. Manchmal wache ich nachts auf, schweißgebadet natürlich. Ich schaue nach, ob die Tür abgeschlossen ist. Auf dem Weg zurück ins Bett frage ich mich jedes Mal: Wer klickt in Taiwan meine Seite an?

Irgendwann schlafe ich wieder ein und träume, dass ich mich von meinem Auto trenne, damit es nicht beschlagnahmt wird. Ich verkaufe es weit unter Wert. Der Käufer und neue Besitzer ist ein gewisser Oleg.

Hinter Gittern

ODESSA, UKRAINE Ich habe mich vor ein paar Tagen abschätzig über Odessas Zoo geäußert. Ich schrieb: „Man riecht ihn von weitem.”

Ich weiß selbst nicht mehr, wie das passieren konnte, ich war ungerecht. Vielleicht habe ich an die Fernsehserie „Hinter Gittern” gedacht und deshalb etwas durcheinander gebracht.

Untermieter gesucht: der Tiger
Untermieter gesucht: der Tiger
Kleine und große Bären: Odessas Zoo
Kleine und große Bären: Odessas Zoo
Ein Hingucker: der gepflegte Gehweg
Ein Hingucker: der gepflegte Gehweg
Eine der Attraktionen: die Hüpfburg; rechts: ein Elefant
Eine der Attraktionen: die Hüpfburg; rechts: ein Elefant

Odessas Zoo hat eine Hüpfburg, eine Rutsche und sehr viele Elektroautos. Man kann eine Lok mieten und selbst fahren. Man darf überall den Müll hinwerfen. Man kann sich auf einem Kamel fotografieren lassen oder auf einem Pony. Man kann historische Kostüme anprobieren und sich dann auch fotografieren lassen. Fotografieren lassen kann man sich außerdem: neben einer großen Stoffgiraffe, einem großen Stofftiger und einem großen Stoffbären. Aus den Lautsprechern kommt oft Musik.

Noch eine Attraktion: die Rutsche; links: ein Elefant
Noch eine Attraktion: die Rutsche; links: ein Elefant

Tiere gibt es auch. Elefant Tarun, der mit Wendy liiert ist, wird wieder Papa.

Kolumne: Mein Sohn und der Kapitalismus

ODESSA, UKRAINE Mein Sohn wird Kapitalist werden, ich habe es im Gefühl. Ich traue es ihm auch ohne weiteres zu, er hat schon jetzt gewisse Züge, die ich als kapitalistisch einstufe. Er lässt sich zum Beispiel für Dinge bezahlen, die in seinem Alter noch selbstverständlich sein sollten. Er stellt Forderungen. Er tut kaum noch etwas ohne Gegenleistung. Ich muss sagen, er verhandelt außerordentlich geschickt. Wenn er essen, baden oder schlafen soll, fragt er: „Kaufst du mir den gelben Bagger?” Manchmal soll es auch nur ein Besuch im Zoo sein. Irgendwann kommt immer der Augenblick, da ist man als Verhandlungsvater erpressbar. Ich kaufe lieber alle gelben Bagger, die ich in Odessa auftreiben kann, weil ich den Zoo kenne. Ich versuche, mein Urteil so freundlich wie möglich zu formulieren: Man riecht ihn von weitem.

Natürlich, mein Sohn ist noch in der Tauschphase, aber weiß ich denn, wie lange das so bleibt? Die Menschheit hat doch auch so angefangen: Tausche eine Nacht in der geheizten Höhle gegen Mammutbraten, ja, so war das. Mein Sohn hat überdies noch einen Hang zum Geiz. Er weigert sich, Straßenmusikanten Geld zu überbringen, er steckt es lieber ein, überhaupt hat er es gern. Stundenlang kann er Münzen sortieren und auftürmen, ohne dass er sich langweilt. Natürlich gebe ich mir die Schuld. Ich bin sein Vater.

Frauen, Porsche, Che Guevara

Mein Sohn darf Polizist werden oder Maschinist, Internist, Dentist, Journalist, Florist, Alchimist, Moralist, Putschist, Nudist, Defätist, Realist, Idealist, Christ und – wenn es unbedingt sein muss – auch Jurist oder Kolumnist. Ich hätte kein Problem, ich bin liberal, er soll finden, was ihn erfüllt. Aber mein Junge wird kein Kapitalist. Ich lasse es nicht zu, klar? Warum? Ist unsere Gesellschaft schon so verkommen, dass ein Vater begründen muss, warum der Sohn nicht Kapitalist werden soll?

Ich weiß noch nicht, wie ich das verhindere. Ich kann ja unmöglich als Gute-Nacht-Geschichte jeden Abend eine halbe Seite aus dem „Kapital” von Karl Marx vorlesen; da bin ich noch nicht durch, wenn der Sohn meines Sohnes beschließt, Kommunist zu werden. Eine Waldorfschule gibt es in Odessa nicht. Che-Guevara-Leibchen für Zweieinhalbjährige habe ich auch noch nicht gesehen. Ich sehe nur, dass die schönsten und elegantesten Frauen von mutmaßlichen Kapitalisten ausgeführt werden, und mein Sohn wird das auch bald merken. Von den Autos rede ich gar nicht. Mein Sohn steht auf Porsche. Wenn er in Odessa einen Porsche sieht, kriegt er den Mund gar nicht mehr zu. Raten Sie mal, wer drinsitzt. Ganz genau.

Jetzt hat ihm die ukrainische Botschaft in Berlin auch noch das Visum für Geschäftsreisende ausgestellt. Er ist noch nicht mal drei, reist aber als Unternehmer. So etwas bleibt doch nicht ohne Folgen, ich sag nur: frühkindliche Prägung.

Ein Vater-Sohn-Gespräch

Ja, ich weiß, es gibt Kapitalisten, die Gutes tun, die eine Stiftung gründen und spenden, ich lese so etwas auch hin und wieder. Aber mal ehrlich, kennen Sie einen, ich meine: persönlich?

Ich habe heute Morgen mit meinem Sohn gesprochen, es war mir wichtig, ich wollte Klarheit, ich konnte nicht mehr schlafen, ich musste ihn wecken.
„Guten Morgen, mein Schatz. Papa muss dich jetzt unbedingt etwas fragen”, habe ich gesagt.
„Will schlafen.”
„Willst du Ka-pi-ta-list werden oder Ni-hi-list?”
Mein Sohn hat ein paar Sekunden überlegt, sich die Augen gerieben und mich angeschaut. Er hat gelächelt und dann geantwortet: „Ka-pi-list, Papa.”

Wort zum Sonntag

Ich kenne mich nun in Odessa schon ganz gut aus. Beim Gehen über die Straße gibt es viel zu beobachten: Ich sehen viel äußeres Elend, und auch das innere Elend glaube ich zu sehen. Es hat sich den Gesichtern der Menschen aufgeprägt. Manchmal kann man ganze Straßenzüge abwandern, und man findet kein einziges ordentliches, freundliches, frohes Gesicht. Fast alles vergrämte Menschen.

(…)

Mit der Straßenbahn geht es in endloser, langsamer Fahrt 18 km. Wenn sie hält, hört man das muntere Geknabber der Sonnenblumkernesser. Kein Mensch redet, aber alles knabbert.

(…)

Der Park ist angenehm. Schön am Wasser gelegen, an seinem Rand ein Stadion, zwar verwahrlost, aber doch Zeuge entschwundener Pracht. Beim Gang durch das Häusermeer der Stadt muss ich feststellen, dass wir unterschiedliche Stilgefühle haben.

Textauszug: Hermann Binder, Aufzeichnungen aus Transnistrien (September – Dezember 1942), Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, München 1998

Fotografien: Christoph Wesemann, Zwei Flaschen im Zoo, Straßenbahn am Priwos-Markt, Stadion im Schewtschenko-Park, Odessa 2008

Krieg im Sandkasten

ODESSA/KIEW, UKRAINE Wie geht es weiter nach dem Ende der Regierungskoalition in Kiew? Erlebt die Ukraine eine tiefe innenpolitische Krise, die Russland wie gerufen käme? Zuerst einmal: Man darf gewiss den Kopf schütteln über die Entwicklungen der vergangenen Wochen und Tage. Dass die Feindschaft zwischen Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsident Julia Timoschenko gerade jetzt eskaliert, da die imperialen Gelüste Russlands neu erwacht sind, sagt einiges aus über den Zustand der politischen Kultur im Land.

Beide Politiker tragen einen Machtkampf aus, seit Timoschenko im Dezember 2007 die Regierung übernommen hat. Immer wieder hatten Juschtschenko und sein Stab kleine Gemeinheiten in Form von Erlässen an die Ministerpräsidentin geschickt. Dabei überschritten sie mehr als einmal ihre Zuständigkeiten. Nun hat sich Timoschenko revanchiert und mit der oppostionellen Partei der Regionen von Ex-Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch den Staatschef umgegrätscht. Die gegen die Präsidentenpartei verabschiedeten Gesetzesänderungen, Auslöser des Koalitionskrachs, schwächen Juschtschenko erheblich. Er könnte nun leichter des Amtes enthoben werden.

Beide Politiker, Juschtschenko und Timoschenko, benehmen sich wie Kinder im Sandkasten. Der eine klaut die Schaufel, der andere wirft mit Sand. Es wäre zum Lachen, stünde das Land nicht augenblicklich vor gewaltigen Problemen. Die Inflation liegt bei 30 Prozent. Die Wirtschaft wächst nur noch schwach. Und Russlands Präsident Dimitrij Medwedjew, ferngesteuert von Vorgänger Wladimir Putin, bricht alle mühsam aufgebauten Beziehungen zu Europa ab. Angeblich träumt der große Nachbar auch von einer Rückholaktion der Krim, die Staatschef Nikita Chrustschow 1954 der Sowjetrepublik Ukraine geschenkt hatte.

Dass sich die beiden Sandkastenfeinde jetzt nicht mehr nur ein bisschen ärgern, sondern offen den Krieg erklären, ist fahrlässig und wird der Politikverdrossenheit neue Nahrung geben, was eigentlich überflüssig wäre. Von seinen Repräsentanten hat der Ukrainer schon jetzt keine hohe Meinung. Politiker gelten als korrupt und egoistisch. Juschtschenko und Timoschenko unternehmen alles, dieses Urteil zu bestätigen. Im echten Sandkasten würden jetzt zwei Mütter die Streithähne hineinrufen und bestrafen: mit Stubenarrest und Fernsehverbot. In der Politik müssten dies die Wähler tun.

Dieser Kommentar erschien auch am 6. September in der Schweriner Volkszeitung.

Lesen Sie weiter:

Nico Lange, Chef des Kiewer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, glaubt an ein Überleben der Koalition. Unsere Ukraine, die Partei des Präsidenten, und der Block Timoschekos würden die Zehn-Tage-Frist nutzen, um zu verhandeln.

An Neuwahlen hat derzeit keine der großen Parteien Interesse, da die Zustimmung sowohl zu Nascha Ukraina als auch zum Block Julija Tymoschenko und zur Partei der Regionen im Verlauf der letzten Monate deutlich gesunken ist.

Lange ist überzeugt, dass ein Zusammengehen des Blocks mit der oppositionellen Partei der Region keine Alternative sei. Timoschenkos Wähler würden eine Liaison mit den prorussischen Kräften nicht verzeihen. Der Experte prognostiziert, dass das organgene Regierungsbündnis nach ein paar Raufereien und Zugeständnissen fortgesetzt werde. Den zweiten Ausweg aus der Krise, eine geschäftsführende Regierung ohne Koalition und mit wechselnden Mehrheiten, hält Lange für verheerend.

Für die nötigen innenpolitischen Reformen und die Außenpolitik der Ukraine wäre das allerdings, insbesondere vor dem Hintergrund der schwach entwickelten parlamentarischen und politischen Kultur, eine vollkommen unverantwortliche Perspektive.

Die komplette Analyse von Nico Lange finden Sie hier.

Kolumne: Meine Brille gehört mir

ODESSA, UKRAINE Seit ich in Odessa lebe, bin ich ein Freund der Generation „50 plus” in Deutschland, ich verstehe die Sorgen der Frauen und Männer, die der Arbeitsmarkt nicht mehr braucht. Mir ergeht es ähnlich, obschon ich viel jünger bin, ich werde auch nicht gebraucht. Es gibt in der Stadt viele offene Stellen, wie das so schön heißt, vor allem in Restaurants, Cafés, Supermärkten, Geschäften und Salons jeder Art herrscht Mangel an Personal. Überall lese ich die Aushänge. Für mich ist nie ein Angebot dabei.

Das ist keine Ausrede, ich versuche nicht, mich zu drücken, ich will ja arbeiten, ich bin mir nicht zu fein, ich würde mich auch waschen und rasieren vor dem Vorstellungsgespräch, ich wäre bereit, vorher ein unbezahltes Praktikum zu machen. Ich könnte mich dumm stellen, um nicht überqualifiziert zu erscheinen, es fiele mir gar nicht schwer. Sollte ich zu dumm sein und unterqualifiziert erscheinen, könnte ich mich weiterbilden.

Ich glaube, ich wäre ein guter Kellner oder Verkäufer, ich bin auf den ersten Blick ganz umgänglich und auf den zweiten ausreichend verschlagen, ich arbeite schließlich lange genug als Journalist. Ich würde zwar nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich Eskimos Kühlschränke verkaufen könnte, aber ein Vegetarier verließe das Lokal, in dem ich bediene, wahrscheinlich nicht ohne ein Rinderfilet im Magen.
In Odessa aber bin ich nicht vermittelbar. „Wir stellen ein: Mädchen bis 25 und Frauen bis 30″, steht auf den Aushängen. Und überall arbeiten jetzt schon Mädchen bis 25 und Frauen bis 30. Ich weiß nicht, ob dieser Weiberwahn richtig ist.

Ich bin beim Fotografen gewesen, weil ich Passbilder brauchte. Eine Frau bis 30, vielleicht war es auch noch ein Mädchen bis 25, mit aufrechtem Busen, brauner Haut, blondem Haar und Fitnessstudiofigur, unbestreitbar ausgesprochen attraktiv, platzierte mich und holte dann die Kamera: neueste Technik, leicht und kompakt, kein schwarzes Monster, das einen gleich erschreckt. Meine Oma hat so eine Knipse dabei, wenn sie mit ihren Freundinnen vom Seniorenklub in den Harz fährt.

Nach zwanzig Sekunden war ich fertig, es ist ja der Wahnsinn, was sich in der digitalen Fotografie gerade abspielt, zehn Minuten später hatte ich die Passbilder, das geht ja so rasend schnell heutzutage, 15 Sekunden später fragte ich die Fotografin, wie dieses Ungeheuer auf den Aufnahmen heiße. Durch beide Pupillen ging ein senkrechter, silberfarbener Strich. Irgendetwas, vermutlich der Blitz, war dort eingeschlagen. Meine Augen sahen ein bisschen aus, als würden zwei Dreistachlige Stichlinge an den Lidern Klimmzüge machen. Ein Fotograf, der nicht ganz unterbelichtet ist, müsste so etwas erkennen und verhindern, meine ich.
„Sie müssen die Brille absetzen”, sagte die Frau bis 30 oder das Mädchen bis 25.

Seit meinem vierten Lebensjahr trage ich eine Brille, ich bin also fast mit ihr auf die Welt gekommen. Bis weit in die Pubertät hinein war ich überall, in der Klasse, im Ferienlager, im Sportverein, der einzige Junge mit einer Sehhilfe. Man musste auf Gruppenbildern nur die Brille suchen, schon hatte man mich gefunden.

Ich habe auch alle gemeinen Spitznamen getragen, die sich Kinder ausdenken. Ich war: Brillenschlange, Vierauge, Professor, Blindschleiche, Maulwurf. Ich versuchte gegenzusteuern und die Tiervergleiche loszuwerden, indem ich die Schimpfwörter Fielmann und Kassenclown für mich erfand. Sie setzten sich aber nicht durch. In all den Jahren habe ich überdies kein Gestell ausgelassen, vor meinen Augen war nie ein Trend sicher. Ich sah aus wie Woody Allen, wie Stefan Aust, wie John Lennon und wie Ilona Christen.

„Nehmen Sie sie doch einfach ab”, sagte Fotografin.
„Auf Wiedersehen”, sagte ich und ging. An der Tür entdeckte ich einen dieser Aushänge.

Meine Brille gehört mir; ohne fühle ich mich nackt, ohne habe ich kein Gesicht. Ich habe nicht die Jahre als Brillenschlange, Vierauge, Professor, Blindschleiche, Maulwurf, Fielmann, Kassenclown, Woody Allen, Stefan Aust, John Lennon und Ilona Christen überlebt, um mich in Odessa von einer Frau bis 30 oder einem Mädchen bis 25 verunstalten zu lassen. Ich werde mit Aschenbechern vor den Augen im Sarg liegen, das verfüge ich übrigens sogar testamentarisch.

Ich habe einen anderen Fotografen gefunden: uraltes Modell, Mitte fünfzig, schwer und kompakt, ein zotteliges Monster, das einen gleich erschreckt, hinter einem schwarzen Monster, das nicht weniger Angst verbreitet. Der Mann hat sein halbes Leben, statt am Strand oder im Fitnessstudio, in der Dunkelkammer verbracht und sieht auch so aus. Seine Passbilder sind perfekt.

Nachtrag: Mein lieber und geschätzter Kolumnistenkollege Axel Scherm hat sich auch mit dem Thema beschäftigt und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Nachrichtensprecher Heinz Wolf dringend ein Nasenfahrrad braucht. Ich empfehle, mal Axel Scherms Brillenkolumne aufzusetzen zu lesen.

Regierung am Ende

ODESSA/KIEW, UKRAINE Die prowestliche Regierung der Ukraine ist am Ende. Die Präsidentenpartei Unsere Ukraine hat die Zusammenarbeit mit dem Block von Ministerpräsidentin Julia Timoschenko für beendet erklärt. Staatschef Wiktor Juschtschenko sagte gestern in Kiew, im Parlament habe sich “de facto eine neue parlamentarische Koalition gebildet”.

Auslöser für den Bruch ist der Streit um die Russland-Politik nach der Krise im Kaukasus.  Der Block hatte in der Nacht zu Mittwoch mit der Opposition für ein Gesetz gestimmt, dass die Rechte des Präsidenten einschränkt und Timoschenko mehr Macht gibt. Juschtschenko verurteilte die Entscheidung in einer Fernsehansprache als “politischen und verfassungsrechtlichen Putsch”. Timoschenko forderte die Präsidentenpartei zur Rückkehr auf. “Sie haben zehn Tage ohne Ultimaten, ohne Forderungen, ohne Provokationen, um sich wieder an der demokratischen Koalition zu beteiligen”, sagte sie. Auch sie hielt eine Fernsehansprache.

Im Dezember könnte es zu Neuwahlen kommen. Juschtschenko hat bereits angekündigt, das Parlament aufzulösen, sollte sich nicht in den nächsten 30 Tagen eine neue Koalition finden. Möglich erscheint aber auch, dass Timoschenkos Block künftig mit der pro-russischen Partei der Regionen von Ex-Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch regiert, zumal die Mehrheit sehr stabil wäre. Janukowitsch hat eine solche Koalition nicht ausgeschlossen. Experten glauben, dass ein Zusammengehen der beiden Lager die Spaltung des Landes beenden könnte. In der Ukraine gibt es erbitterten Streit um die politische Ausrichtung. Bürger im Osten und im Süden sehen mehrheitlich die Zukunft in der Nähe Russlands und lehnen eine Nato-Mitgliedschaft ab; im Westen dominieren die Befürworter einer Annäherung an Europa und das Verteidigungsbündnis.

Das Verhältnis zwischen Juschtschenko und Timoschenko, einst Verbündete in der Orangenen Revolution 2004, gilt schon lange als zerrüttet. Während die Regierungschefin nach wie vor sehr populär ist, verliert der Staatschef zunehmend den Rückhalt im Volk. Der Kaukasuskonflikt hat die Spannungen offenbar noch einmal verschärft. Timoschenko hatte den Angriff Russlands auf Georgien – anders als Juschtschenko – zunächst nicht verurteilt, sondern beharrlich geschwiegen. Später dementierte sie allerdings Gerüchte, sie suche auf diese Weise bewusst die Nähe zu Moskau und den pro-russischen Kräften in der Ukraine um Ex-Regierungschef Janukowitsch, um Unterstützung für den nächsten Präsidentschaftswahlkampf zu bekommen.  Juschtschenko griff Timoschenko scharf an und unterstellte ihr einen “Putschversuch”. Beide Politiker geben sich gegenseitig die Schuld am Ende der Koalition.