ODESSA, UKRAINE Seit ich in Odessa lebe, bin ich ein Freund der Generation „50 plus” in Deutschland, ich verstehe die Sorgen der Frauen und Männer, die der Arbeitsmarkt nicht mehr braucht. Mir ergeht es ähnlich, obschon ich viel jünger bin, ich werde auch nicht gebraucht. Es gibt in der Stadt viele offene Stellen, wie das so schön heißt, vor allem in Restaurants, Cafés, Supermärkten, Geschäften und Salons jeder Art herrscht Mangel an Personal. Überall lese ich die Aushänge. Für mich ist nie ein Angebot dabei.
Das ist keine Ausrede, ich versuche nicht, mich zu drücken, ich will ja arbeiten, ich bin mir nicht zu fein, ich würde mich auch waschen und rasieren vor dem Vorstellungsgespräch, ich wäre bereit, vorher ein unbezahltes Praktikum zu machen. Ich könnte mich dumm stellen, um nicht überqualifiziert zu erscheinen, es fiele mir gar nicht schwer. Sollte ich zu dumm sein und unterqualifiziert erscheinen, könnte ich mich weiterbilden.
Ich glaube, ich wäre ein guter Kellner oder Verkäufer, ich bin auf den ersten Blick ganz umgänglich und auf den zweiten ausreichend verschlagen, ich arbeite schließlich lange genug als Journalist. Ich würde zwar nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich Eskimos Kühlschränke verkaufen könnte, aber ein Vegetarier verließe das Lokal, in dem ich bediene, wahrscheinlich nicht ohne ein Rinderfilet im Magen.
In Odessa aber bin ich nicht vermittelbar. „Wir stellen ein: Mädchen bis 25 und Frauen bis 30″, steht auf den Aushängen. Und überall arbeiten jetzt schon Mädchen bis 25 und Frauen bis 30. Ich weiß nicht, ob dieser Weiberwahn richtig ist.
Ich bin beim Fotografen gewesen, weil ich Passbilder brauchte. Eine Frau bis 30, vielleicht war es auch noch ein Mädchen bis 25, mit aufrechtem Busen, brauner Haut, blondem Haar und Fitnessstudiofigur, unbestreitbar ausgesprochen attraktiv, platzierte mich und holte dann die Kamera: neueste Technik, leicht und kompakt, kein schwarzes Monster, das einen gleich erschreckt. Meine Oma hat so eine Knipse dabei, wenn sie mit ihren Freundinnen vom Seniorenklub in den Harz fährt.
Nach zwanzig Sekunden war ich fertig, es ist ja der Wahnsinn, was sich in der digitalen Fotografie gerade abspielt, zehn Minuten später hatte ich die Passbilder, das geht ja so rasend schnell heutzutage, 15 Sekunden später fragte ich die Fotografin, wie dieses Ungeheuer auf den Aufnahmen heiße. Durch beide Pupillen ging ein senkrechter, silberfarbener Strich. Irgendetwas, vermutlich der Blitz, war dort eingeschlagen. Meine Augen sahen ein bisschen aus, als würden zwei Dreistachlige Stichlinge an den Lidern Klimmzüge machen. Ein Fotograf, der nicht ganz unterbelichtet ist, müsste so etwas erkennen und verhindern, meine ich.
„Sie müssen die Brille absetzen”, sagte die Frau bis 30 oder das Mädchen bis 25.
Seit meinem vierten Lebensjahr trage ich eine Brille, ich bin also fast mit ihr auf die Welt gekommen. Bis weit in die Pubertät hinein war ich überall, in der Klasse, im Ferienlager, im Sportverein, der einzige Junge mit einer Sehhilfe. Man musste auf Gruppenbildern nur die Brille suchen, schon hatte man mich gefunden.
Ich habe auch alle gemeinen Spitznamen getragen, die sich Kinder ausdenken. Ich war: Brillenschlange, Vierauge, Professor, Blindschleiche, Maulwurf. Ich versuchte gegenzusteuern und die Tiervergleiche loszuwerden, indem ich die Schimpfwörter Fielmann und Kassenclown für mich erfand. Sie setzten sich aber nicht durch. In all den Jahren habe ich überdies kein Gestell ausgelassen, vor meinen Augen war nie ein Trend sicher. Ich sah aus wie Woody Allen, wie Stefan Aust, wie John Lennon und wie Ilona Christen.
„Nehmen Sie sie doch einfach ab”, sagte Fotografin.
„Auf Wiedersehen”, sagte ich und ging. An der Tür entdeckte ich einen dieser Aushänge.
Meine Brille gehört mir; ohne fühle ich mich nackt, ohne habe ich kein Gesicht. Ich habe nicht die Jahre als Brillenschlange, Vierauge, Professor, Blindschleiche, Maulwurf, Fielmann, Kassenclown, Woody Allen, Stefan Aust, John Lennon und Ilona Christen überlebt, um mich in Odessa von einer Frau bis 30 oder einem Mädchen bis 25 verunstalten zu lassen. Ich werde mit Aschenbechern vor den Augen im Sarg liegen, das verfüge ich übrigens sogar testamentarisch.
Ich habe einen anderen Fotografen gefunden: uraltes Modell, Mitte fünfzig, schwer und kompakt, ein zotteliges Monster, das einen gleich erschreckt, hinter einem schwarzen Monster, das nicht weniger Angst verbreitet. Der Mann hat sein halbes Leben, statt am Strand oder im Fitnessstudio, in der Dunkelkammer verbracht und sieht auch so aus. Seine Passbilder sind perfekt.
Nachtrag: Mein lieber und geschätzter Kolumnistenkollege Axel Scherm hat sich auch mit dem Thema beschäftigt und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Nachrichtensprecher Heinz Wolf dringend ein Nasenfahrrad braucht. Ich empfehle, mal Axel Scherms Brillenkolumne aufzusetzen zu lesen.