Flirt mit Frauen und Fischen

Fischfrauen auf dem Priwos

Ich glaube, so wie auf dem Priwos in Odessa riecht es auf keinem deutschen Biowochenmarkt. Das ist ein Kompliment (für den Priwos). Er ist übrigens gewachsen: Dort, wo mal etwas war und dann lange nichts, weil gebaut wurde, ist jetzt wieder etwas. Wenn ich es richtig überblickt habe, sind die Fischverkäuferinnen umgezogen. Umgezogen haben sie sich nicht.

Gut so, die Kittel gehören dazu.

Okay, ich habe mich nicht immer freundlich über Odessas berühmten Riesenmarkt geäußert. Einmal schrieb ich:

Dort braucht man ungefähr einen halben Tag, um drei Tomaten, ein Kilogramm Kartoffeln und ein paar Socken zu kaufen, weil man zuerst in diesem Irrgarten die Orientierung verliert und danach dem Irrglauben verfällt, Schnäppchen zu finden, in diesem konkreten Fall: besonders günstige Tomaten, Kartoffeln und Socken. Und derweil beginnen schon die Ohren zu schmerzen, weil die Marktfrauen pausenlos brüllen – je älter, umso lauter – und mit jedem zweiten Kunden in Streit geraten, wenn nicht gerade halbnackte Männer rumpelnde Handwagen durch die engsten Gänge schieben und sich mit dem Ruf  “Осторожно! Ноги!”* den Weg freikrakeelen.  (* “Vorsichtig! Füße!”)

Ein anderes Mal:

Fast alles, was es in der Ukraine gibt, ist in Deutschland günstiger und qualitativ hochwertiger. Die Ausnahmen, die mir auf Anhieb einfallen, sind Kartoffeln und anderes Zeug, das dicke Frauen auf dem Priwos-Markt verkaufen.

Ich entschuldige mich für diese Worte. Heute war es unheimlich nett bei den Fischen und den Frauen.¹ Ich bilde mir sogar ein, die Frauen (und vielleicht auch die Fische) hätten mit mir geflirtet.² Es war zwar nur ein harmloses Schwätzchen  (“Ich bin ein Berliner” und so weiter) – aber es hat mich mit dem Priwos versöhnt.³ Danke.

¹ Ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig, seit ich auf dem Priwos die tollen EM-2012-Schlappen gekauft habe.
²
Ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig, seit ich auf dem Priwos die tollen EM-2012-Schlappen gekauft habe.
³
Ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig, seit ich auf dem Priwos die tollen EM-2012-Schlappen gekauft habe.
  

Schuhversichtlich

Also meinetwegen kann die Fußball-EM 2012 kommen.

Euroletten

Ich gehe davon, dass Europas Fußball-Boss Michel Platini meine EM-Schlappen vom Priwos-Markt persönlich lizensiert hat. Ich möchte schließlich nicht, dass in der Ukraine mit diesem Großereignis irgendwelche krummen Geschäfte gemacht werden.

Die Ukraine-Analysen beschreiben übrigens, wie es ein Jahr vor dem Anpfiff aussieht im Land des Gastgebers. Die Leser dieses Blog wissen ja immer schon, wer warum und wie das Finale in Kiew gewinnt.

(Natürlich habe ich nach dem Priwos und vor dem Foto darauf verzichtet, meine Füße zu waschen. Solch ein Blog lebt ja auch von der Authentizität des Hausherrn.)

Kolumne: Mein Sohn und der Datschaismus

ODESSA/UKRAINE Ich brauche in Odessa nach wie vor keinen Stadtplan. Nun kann man einwenden, das sei nicht unbedingt eine herausragende Leistung für jemanden, der mehr als eineinhalb Jahre hier gelebt hat. Allerdings gibt es andere Dinge, die mich überfordern, obwohl ich sie beherrschen müsste, weil ich schon lange genug mit ihnen zu tun habe. Würde ich mich zum Beispiel in Odessa orientieren, wie ich in Odessa rede, hätte ich gestern nicht einmal die Potemkinsche Treppe wiedergefunden.

Datscha

Ich habe in der fünften Klasse angefangen, Russisch zu lernen. In der DDR war das die erste Fremdsprache – natürlich auch aus Dankbarkeit für die Rote Armee, die uns freundlicherweise Adolf Hitler weggenommen hatte, was uns allein wohl nie gelungen wäre. Wenn man die These vertritt, dass der Führer von dreiunddreißig bis fünfundvierzig nicht allein unterwegs gewesen sei, könnte man auch sagen: Wir wurden uns selbst weggenommen. Kurz und Knopp: Nicht alle Deutschen waren Nazis. Aber alle Nazis waren Deutsche.

Russisch war auch eine Siegersprache, die des Großen Bruders, der schon den Kommunismus erreicht hatte, während wir in der DDR noch im Sozialismus feststeckten. Ach, war das ein Schlamassel.

Dass wir nicht zuerst Englisch lernten, war nur konsequent und logisch. Wo, bitte schön, hätte ich denn meine Kenntnisse vertiefen oder überhaupt anwenden sollen? Für DDR-Bürger hatte Englisch ungefähr den Stellenwert, den heute Esperanto hat: nette Sprache, aber find erst mal jemanden, mit dem du sie teilen kannst.

Niemand außer Helmut Kohl hat doch 1987 gewusst, dass die Mauer bald fällt.

Panzer vor dem Kinderzimmerfenster

Dass wir mit Russisch auch nicht viel anfangen konnten, ist wiederum einer dieser Witze, wie sie nur ein Land wie die DDR hinbekam. Das Land war besetzt von der Roten Armee; durch meine Heimatstadt liefen sowjetische Offiziere, von denen wir auf der Straße immer etwas zu schnorren versuchten: Schokolade (klappte selten) und Abzeichen (klappte nie). Wenn wir ins Nachbardorf fuhren, kamen wir an ihrer Kaserne vorbei. Viel näher dran an ihnen waren wir eigentlich nicht.

Ich erinnere mich an Panzerkolonnen, die unter meinem Kinderzimmerfenster vorbeischepperten, von einer Übung in der Heide zurückkehrend, wo schon die Wehrmacht geübt hatte und heute die Bundeswehr übt. (Das ist bloß eine Feststellung, die zwischen den Zeilen exakt so viel ausdrücken soll: gar nichts.) Panzergucken, das war für uns Kinder in dieser Straße irgendwann nichts Besonderes mehr.

Die Erwachsenen kommentierten das Geschepper ziemlich lapidar: “Ach, Kolja ist wieder unterwegs.” Den Iwan kannten wir nicht, den gab′s wohl nur im Westen. Bei uns hieß der Rotarmist Kolja. Sehr viel freundlicher war dieser Spitzname aber auch nicht.

Alf und die Offizierskinder

Einmal besuchten sowjetische Schüler, Kinder von Offizieren, die in der Kaserne am Rande der Stadt lebten, unsere Klasse. Jeder von uns saß einem von ihnen gegenüber. Und jeder von uns fragte einen von ihnen auf Russisch gleich mit dem ersten Satz: “Kennst du Alf?” Die Antwort, die jeder von uns bekam, war: “Njet.” Damit war einem Gespräch jede Grundlage entzogen. Sie kamen als Fremde und gingen als Fremde.

In meinem Pionierausweis stand damals:

Thälmann-Pioniere sind Freunde der Sowjetunion. Wir hüten und pflegen die Freundschaft mit der Sowjetunion, so wie es uns Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck lehren. Die Jungpioniere der Sowjetunion sind unsere Freunde, von ihnen wollen wir immer lernen.

Was sollte ich von jemandem lernen, der nicht einmal Alf kennt?

Ich weiß nicht, was diese Offizierskinder damals über uns dachten; hoffentlich dachten sie: “Diese Idioten!”

Heute, 23 Jahre später, ist mir die slawische Welt immer noch ein bisschen fremd.

Mein Sohn ist anders aufgewachsen. Als er zwei Jahre alt war, sind wir nach Odessa gezogen und haben ihn in einen städtischen Kindergarten gesteckt. Die nächsten 18 Monate hießen seine Freunde nicht Tim, Leo, Paul und Kevin, sondern Gleb, Wanja, Maxim und Jegor. Am ersten Kindergartentag verstand er kein Wort, eine Woche später fing er an zu sprechen, nach drei Monaten bestellte er nachts im Halbschlaf sein Wasser bei mir auf Russisch. “Waaaaaaaaaadietschka!”

Jetzt ist er fünf und spricht ohne Akzent. Ich verstehe wenig und lausche gierig.

Es gibt in Odessa ein sehr schönes Gartenrestaurant. Praktischerweise heißt es Datscha. Es ist ein bisschen teurer. Teurer heißt: Man bezahlt auch für etwas, das man sieht, aber nicht schmeckt. Draußen gibt es einen Spielplatz, eine Schaukel, Käfige mit Vögelchen darin und reichlich Gartenidylle. Drinnen steht auf dem Weg zur Toilette eine Badewanne. Einfach so.

Gestern habe ich meinen Sohn gefragt, ob wir in unserem Urlaub mal wieder zur Datscha fahren wollten.
“Datscha, Papa”, sagte er.

Datscha klingt bei ihm ungefähr so: Daaaad-dja. Darin steckt so viel mehr, das Wort riecht nach selbstgepflanzten Tomaten und Schaschlyk auf dem Grill, ich höre ein Bächlein plätschern oder das Schwarze Meer Wellen heranspülen, ich sehe so ein Häuschen sogar vor mir, mit Leinen voller Wäsche, Wasserpumpe und quietschendem Gartentor. Wenn mein Sohn Daaaad-dja sagt, dann ist das: rein in den alten Lada, raus aus der Stadt. So wird’s hier gemacht, in Odessa und anderswo: Alltag und Kummer zurücklassen, abschalten und erholen auf dem Fleckchen Land, das einem niemand nimmt.

Bei mir klingt Datscha wie Bungalow.

DVD

Mein Sohn und ich haben noch ein bisschen geübt.
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Nee, Papa. D a a a a d – d j a.”

Seine Ohren müssen schmerzen, wenn er mein Russisch hört. Es klingt für ihn so wie für mich der Russe, den man im ZDF-Krimi dieses Klischeeslawendeutsch reden lässt: “Morgän iäch gähä inn Kinno.”

Mein Sohn kennt Alf auch nicht. Er lacht sich kaputt, wenn er Nu, pogodi! guckt, natürlich im Original.

Alle Sohn-Kolumnen:

Comeback-Kolumne: Oleg und die Leokonservativen

DSC_0015ODESSA/UKRAINE “Kann man euch denn nicht mal eineinhalb Jahre allein lassen?”, habe ich heute meinen Freund Oleg gefragt. Ja, vielleicht hat die Geschichte der Männerfreundschaften schon romantischere Wiedersehenssätze gehört. Andererseits: Mit Romantik hatten Oleg und ich es ja noch nie.

Oleg fragte zurück: “Was meinst du? Und vor allem: Was willst du in Odessa?”
“Es sind doch nur zwei Wochen.”

Was soll ich sagen? Ich war ja nie richtig weg. Ich habe mich seit meinem Abschied im November 2009 immer wie ein halber Odessit gefühlt. Mir fehlt die Stadt, ich weiß nicht genau, warum, es ist bloß so ein Gefühl. Denke ich an Odessa, passiert was in meinem Körper, ich spüre dann eine Art Stich oder ein Ziehen, irgendwo zwischen Kehle und Bauchnabel. Wahrscheinlich werde ich nur alt und sentimental.

Wenn ich an Berlin denke, wo ich jetzt lebe, sehe ich mich zur Arbeit radeln und die Hasen im Tiergarten herumhoppeln. Neulich habe ich dort einen Fuchs gesehen und es gleich allen Leuten erzählt. In Odessa hätte ein Fuchs in meinem Auto angeschnallt auf dem Beifahrersitz hocken und die CD wechseln können – Frau und Kind hätten das irgendwann mal von mir erfahren.

Kleines Kolumnistenkreuzverhör

“Es ist doch alles wie immer bei uns”, sagte Oleg und bestellte sich einen Kaffee.
“Oleg, mach doch mal die Augen auf.”
Oleg riss die Augen weit auf und nickte. “Na gut, fangen wir mal an”, sagte er.
“Womit?”, fragte ich.
“Kleines Kolumnistenkreuzverhör. Erstens: Beschreibe den Bus, der dich und die anderen Passagiere vom Flugzeug abgeholt und zur Passkontrolle gefahren hat.”
“Ich würde sagen: gelber Schwitzkasten, gezogen vom Führerhaus eines sehr alten Trucks.”Flughafenbus
“Zweitens: Wie lange hat die Passkontrolle gedauert?”
“Eine Ewigkeit.”
“Drittens: Wie lange hast du danach noch auf deinen Koffer gewartet?”
“Eineinhalb Ewigkeiten.”
“Viertens: Mit welchem Wort würdest du den Taxifahrer charakterisieren, der dich vom Flughafen weggebracht hat?”
“Nur ein Wort, Oleg?”
“Nur ein Wort, Kolumnist.”
“Gauner.”
“Fünftens: Beschreibe Odessas Straßen mit einem Wort.”
“Oleg, was soll das?”
“Ich stelle hier die Fragen. Also?”
“Löchrig.”
“Sechstens: Was mit Odessas schönen Frauen?”
“Kein Kommentar, Frau liest mit.”
“Siebtens: Was ist mit den Preisen?”
“Alles wird immer teurer, Oleg. Der Kaviar ist inzwischen in Berlin billiger als hier.”
“Na, du hast Sorgen, egal. Achtens: Wie ist übrigens das Wetter? Regnet’s? Ungewöhnlich kühl für Mitte Juli, findest du nicht?”
“Die Hitze bringt mich um. Ich flüchte vor der Sonne.”
“Neuntens, Schattenmann, vorletzte Frage: Was haben früher die Kassiererinnen in den Geschäften gemacht, wenn sie gerade etwas anderes zu tun hatten als arbeiten?”
“Sie haben das Schild Technische Pause vor die Kasse gestellt.”
“Und zehntens: Was machen die Verkäuferinnen heute, wenn sie gerade etwas anderes zu tun haben als arbeiten?”
“Schon gut, Oleg.”
“Du willst mir einreden, es habe sich bei uns was verändert, Comeback-Kolumnist. Ja?”

Ich hatte mit Oleg eigentlich ernsthaft über die politische Situation im Land nach dem Machtwechsel reden wollen. Seit dem 25. Februar 2010 ist Viktor Janukowitsch Staatspräsident. Ich habe die Ukraine seit meiner Rückkehr nach Deutschland, zugegeben, ein bisschen aus dem Blick verloren. Was in der Zeitung stand, habe ich natürlich gelesen. Es waren meist nur wenige Meldungen. So viel ist offenbar nicht mehr los in der Ukraine, seit ich weg bin.

Oma Julia

Wenn doch mal berichtet wird, geht es um drei Personen: um Klitschko, den Jüngeren, um Klitschko, den Älteren, und um Julia Timoschenko, die einstige Regierungschefin. Die schöne Julia trägt nicht mehr nur ihren berühmten Haarkranz, sondern jetzt manchmal auch eine Brille, die an ihr eher unvorteilhaft aussieht. Es ist mit Julia wie mit Oma: Ich sehe sie selten, und ich sehe sie deshalb altern.

Jedenfalls wird Timoschenko in Kiew gerade der Prozess gemacht, es geht um Amtsmissbrauch beim Abschluss eines Gaslieferabkommens mit Russland im Jahr 2009. Ich kann nicht beurteilen, ob die neuen Machthaber Timoschenko tatsächlich ins Gefängnis bringen wollen, um sie so für immer auszuschalten. Ich weiß auch nicht, ob der neue Präsident alle oppositionellen Kräfte im Land einschüchtern und die Meinungsfreiheit brechen will. Ich weiß nur: Um ein Land, in dem ausgerechnet jemand wie Janukowitsch den Anti-Korruptionskämpfer gibt, müsste man sich schon Sorgen machen.

Ein bisschen verstehe ich sogar, warum es Oleg kaum juckt, dass eine Politikerin, die in den neunziger Jahren auf dubiose Art schwerreich geworden ist, gerade ungerecht behandelt wird und eine “Justizfarce” erlebt, wie die Neue Zürcher Zeitung klagt. Noch der größte Verbrecher sollte das Recht auf einen fairen Prozess, schon klar, sehe ich genauso. Doch wenn alle drei bis vier Jahre ein anderer Politiker oben ist und den, der gerade unten ist, zur größten Gefahr des Landes erklärt, kann man als Bürger vielleicht auch abstumpfen und denken: Das klären die schon untereinander.

BrunnenUnd ich habe ja auch gerade genug andere Probleme: Mein Körper assimiliert sich nur zögerlich, ja er benimmt sich, als hätte ich ihn vom Berliner Winter direkt in die Sahara geschickt. Ich kann gar nicht so viel saufen, wie ich schwitzen muss. Einerseits hat es vielleicht damit zu tun, dass das kleine Mädchen vor zwei Jahren, wenn wir durch Odessa spaziert sind, immer im Kinderwagen saß – und jetzt auf meinen Schultern. Andererseits empfinde ich Odessa tatsächlich als anstrengend. Es ist so wahnsinnig laut, überall. Wenn die Fußgängerampel auf grün umspringt, gehe ich nicht los, sondern warte, bis die Autos wirklich gehalten haben. Und weil plötzlich alles wieder so furchtbar langsam geht, ob ich nun einkaufe oder mit dem Bus fahre, werde ich schnell ungeduldig.

Oleg hatte seinen Kaffee ausgetrunken, morgen Abend würden wir uns – der alten Zeiten wegen – vielleicht mal wieder mit Wodka duellieren. Aber das eine musste jetzt noch raus, ein letzter Versuch.

“Oleg, euer Ex-Verteidigungsminister ist in Untersuchungshaft und hat einen mehrtägigen Hungerstreik hinter sich.”
“Euer Ex-Verteidigungsminister ist auch verschwunden, scheint mir. Oder irre ich? Gab es bei dem nicht auch irgendwas zu untersuchen?”

“Ach Oleg, du hast mir gefehlt.”
“Ich kann nicht erkennen, dass ihr besser regiert werdet als wir”, sagte er. “Ihr kriegt es ja nicht mal hin, eure Leo-Panzer vernünftig an die Saudis zu vertickern.”

Ich schwieg. Die Kanzlerin will’s doch so.

Kolumne: Oleg und das Ende des Kolumnismus

ODESSA/UKRAINE Wenn ich das nächste Mal in die Ukraine komme, bringe ich 5000 Kinder-Laufräder mit, mindestens, und werde Millionär. Ich verstehe rein gar nichts von Existenzgründereien, traue mir aber durchaus eine einfache Marktanalyse zu: Nachfrage riesig, Angebot null, folglich auch keine Konkurrenz. Ich hätte das Monopol. Seit einem Jahr fährt mein Sohn mit seinem Laufrad aus Deutschland durch Odessa – und er wird bestaunt von allen. Die Jungen sind neidisch und betteln, bis sie mal Probe fahren dürfen. Väter erkundigen sich, wo es ein solches Gefährt ohne Pedalen zu kaufen gebe. Die Mädchen kriegen weiche Knie. Mein Sohn ist auch nicht gerade schüchtern oder uneitel. Wenn er fährt, imitiert er, brummend, schnaubend, röhrend, sabbernd, Motorradgeräusche, 1000 Kubik aufwärts. Das ist im Groben mein Businessplan, so etwas braucht man ja heutzutage, um Investoren zu finden.

Laufrad mit blinden Passagieren
Die Einzelheiten meines Unternehmens – Transport, Genehmigungen aller Art, Vertrieb – müssten noch geklärt werden. Aber um mir das Copyright zu sichern, dass nur ich mit Laufrädern in der Ukraine handeln darf, müsste das genügen. Meinem Freund Oleg würde ich gern einen Posten versprechen. Er hat sich auch schon beworben, initiativ sozusagen, mit vagen Arbeits-, aber umso genaueren Gehaltsvorstellungen, schnelle Griwna, natürlich gekoppelt an den Euro. Leider kann ich mir nur einen Unfähigen leisten.

Vorhin hat mich Oleg besucht. „Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten kann, Kolumnist?“, fragte er.
„Komm rein.“
„Oh, du ziehst um?“
„Setz dich.“
„Sehr witzig.“
„Denk dir ‘nen Stuhl.“
„Ist dir die Gegend nicht mehr fein genug?“, fragte Oleg und lehnte sich dort an die Wand, wo bis vor ein paar Stunden noch der große Spiegel gehangen hatte.
„Ick zieh nach Berlin, wa.“
Oleg schluckte zweimal. „Ab wann?“, fragte er.
Ich suchte meinen Zettel mit den Flugdaten, ließ das Papier rascheln und stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich.“
„Der 9. November ist also das Ende des Kolumnismus?“, fragte Oleg.
„Es sieht so aus“, sagte ich.
„Na ja, es wird auch Zeit. Vierzig Kolumnen…“
„…vierundvierzig, Oleg, vierundvierzig…“
„…nur gelogen und betrogen.“
„Aber es waren doch nicht alle schlecht.“

Schaschlik im Regen

Wir schwiegen eine Weile miteinander. Ich trank mein letztes ukrainisches Bier, Oleg blieb bei Wodka. Er rauchte und klopfte die Asche auf den Boden.
„Wo wirst du eigentlich wohnen in Berlin?“, fragte er.
„Charlottenburg.“
„Charlottograd. Sehr schön.“
„Es gibt am S-Bahnhof Charlottenburg ein russisches Geschäft, es heißt Glücklicher Tag, und selbst bei Regen und Kälte wird draußen Schaschlik gegrillt.“
„Kenn ich“, sagte Oleg, „mein Freund Sascha, echter Odessit wie ich, wohnt auch in Charlottograd. Ich gebe ihm deine Telefonnummer!“

Russischer 24-Stunden-Markt am S-Bahnhof Charlottenburg

Mit Olegs Freunden ist das so eine Sache. Ich habe nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich hätte zum Beispiel nicht gedacht, dass es auf dieser Welt einen Mann gibt, der anstrengender ist als mein Freund Oleg. Dann habe ich vor ein paar Wochen Juri kennen gelernt. Juri ist Olegs Freund in Kiew. Oleg hatte ihn beauftragt, mich vom Flughafen Borispol abzuholen und zum Hotel zu bringen. Juri sei ein guter Typ, hatte Oleg gesagt. Juri wartete an seinem Auto und telefonierte wie diese Kino-Kriminellen, indem er beim Sprechen eine Hand vor den Mund hielt. Dann schlug er mir mit seiner Riesenhand auf den Rücken, als würden wir uns schon Jahre kennen.
„Hab viel von dir gehört, Kolumnist“, sagte er.
„Hoffentlich nur Gutes.“
„Auch.“

Sozialismus oder Stau

Juri steckte in einem dieser glänzenden Anzüge, in denen man sich fast spiegelt, hatte ein Handtäschchen dabei und trug eine Riesenuhr. Sein Kreuz war sehr beachtlich. Juri fuhr mit quietschenden Reifen los und legte gleichzeitig eine CD von Rammstein ein. Dann grunzte er mit.
„Wenn du’s nicht magst, sag’s einfach“, sagte er. „Ich habe auch Modern Talking.“

Zehn Minuten später standen wir. Vorne und hinten, natürlich auch seitlich, wurde gehupt. Juri ließ die Hupe kurz los und fragte: „Hast du was gesagt?“
„Stau?“
„Das ist kein Stau.“
„In Odessa ist auch immer Stau.“
„Das ist kein Stau! Hörst du: kein Stau! Vielleicht wäre das in deinem Odessadorf ein Stau, aber Kiew ist eine Metropole, und deshalb ist das hier definitiv kein Stau. Wäre heute Stau, stünden wir an der Schranke vom Parkplatz des Flughafens.“
„Entschuldige.“
„Schon gut“, sagte Juri und hatte plötzlich wieder gute Laune. „Früher war in Kiew weniger Verkehr. Da hatte nicht jeder Depp ein Auto. Na ja, Sozialismus oder Stau, man kann nicht alles haben.“
Juri drehte Rammstein abermals lauter, trommelte mit beiden Daumen aufs Lenkrad und brüllte den Refrain mit, ohne dass ich etwas verstand.
„Nun guck dir mal diesen Penner an“, sagte er und zeigte auf die Mittelspur. Er ließ die Scheibe herunter und schrie: „Der Porsche Cayenne ist ein Frauenauto. Ein Frau-en-au-to! Der Kolumnist macht dich fertig.“

Bis zum Hotel beleidigte Juri noch zwei Cayennefahrer, er ließ den Japaner aufheulen, wenn junge Kiewerinnen die Straßen überquerten, und meinte entschuldigend, er flirte nun einmal gerne, zwischendurch telefonierte, aß und rülpste er. Manchmal tat er all dies auch gleichzeitig. Am Ende aber holte er mir meine Reisetasche aus dem Kofferraum, weil ich, wie er sagte, ein bisschen blass aussähe.

„Sind 10 Euro, okay?“, fragte ich aus Höflichkeit.
„Hey, du bist Olegs Freund“, sagte Juri.
„Bin ich.“
„20.“
„15.“
„25.“
Da wusste ich, dass Juri einer dieser Leute ist, für die man das Wort „gerissenhaft“ erfinden müsste. Vom Hotel zum Flughafen drei Tage später bin ich mit dem Taxi gefahren; das war billiger.

Mein Sohn, das neunmalkluge Dickerchen

„Was ist jetzt?“, fragte Oleg. „Soll ich Sascha deine Telefonnummer geben?“
„Gib mir seine, ich ruf ihn bestimmt an.“
„Wirst du Odessa gar nicht vermissen?“

Wahrscheinlich werde ich erst in Deutschland spüren, wie sehr ich mich an die Ukraine gewöhnt habe. Ich muss einiges neu lernen. Ich darf wieder Wasser aus dem Hahn trinken. Ich darf nicht irgendwo Busse anhalten, wenn ich mitgenommen werden will. Noch aber halte ich Bushaltestellen für eine vollkommen unsinnige Erfindung. Sollte ich von der Polizei kontrolliert werden, darf mir nicht einfallen, die Beamten bestechen zu wollen. Andererseits wird es sich toll anfühlen, wenn ich ins Auto steige, ohne vorher im Kopf durchzuspielen, auf welcher Straße heute Polizisten herumlungern, um Schmiergeld zu kassieren.

Um meinen Sohn mache ich mir kaum Sorgen. Er wird in Berlin einen russisch-deutschen Kindergarten besuchen, in dem zwei der drei Erzieherinnen aus der Ukraine stammen. Er bekommt weiterhin drei warme Mahlzeiten in acht Stunden – morgens Brei, mittags Suppe und Hackbällchen mit Püree, nachmittags irgendetwas Öliges, das nach Ei schmeckt – und hat einmal pro Woche Schachunterricht. Da ist der weitere Lebensweg schon einmal grob vorgegeben, es läuft hinaus auf: neunmalkluges Dickerchen. Mit sehr viel Glück reicht es zum Schachweltmeister. Aber sollte in 25 Jahren ein schlanker Deutscher einem dieser Genies aus Russland, Usbekistan oder sonst woher den Titel abjagen, können Sie sicher sein: Mein Sohn ist es nicht.

Eines fernen Tages werde ich – hoffentlich angemessen senil – auf Familienfeiern die alten Geschichten hervorkramen, bis die Kinder und Enkel flüstern: „Ach, Opa erzählt schon wieder von der Ukraine.“ Dann bringen sie mir ein großes Glas Nemiroff oder irgendeinen anderen Wodka, der mich an Odessa erinnert und ein bisschen wehmütig macht, streicheln mir über die Glatze und sagen: „Hattest es nicht leicht, damals. Trink mal einen! Und dann erzählst du, wie Oleg deine Klotür reparieren sollte oder wie ihr deinen 31. Geburtstag gefeiert habt.“
„Der hieß nicht Oleg!“, werde ich brüllen. „Der hieß, äh, der hieß…äh…was weiß ich, Justin oder so, ist auch egal. Aber ein toller Kerl war das. Solche Männer gibt es heutzutage gar nicht mehr.“

Ikonenfachhandel in der Kaiser-Friedrich-Straße (Charlottenburg)
Oleg schraubte die Wodkaflasche zu und packte sie in seinen Rucksack. Er band sich die Schuhe zu und sagte: „Gib wenigstens zu, dass du keine Ideen mehr hast für neue Kolumnen.“
„Ach Oleg, ich habe zum Beispiel noch nie erzählt, wie das war, als mich fünf afrikanische Journalisten in Schwerin besucht haben und plötzlich mein Tisch mit dem Rotwein, dem Bier und dem Abendessen auf dem Hof zusammengebrochen ist. Schade um die schöne Geschichte. Ein Kolumnist soll aufhören, wenn’s am witzigsten ist.“
„Dann hättest du aber nach der ersten Kolumne Schluss machen müssen.“

Wir versuchten uns zu umarmen, aber das misslang uns natürlich. Wie hätte es auch anders sein sollen? Oleg stand schon in der Tür und ging nicht. Ich hatte die Klinke schon in der Hand und machte nicht zu. Es war einer dieser Augenblicke, die einem so unendlich lange vorkommen, wenn man sie gerade erlebt, und deren Wucht trotzdem so schnell vergessen ist. Dann ging Oleg die Stufen hinunter, ganz leise, so dass seine Schritte kaum zu hören waren.
„Weißt du“, rief ich hinterher, „ich freue mich sosehr auf meine neue Aufgabe. Das ist eine tolle Herausforderung, ein spannendes Projekt. Do swidanija!“
„Für einen Kolumnisten ist das ein ziemlich armseliger Schluss.“
„Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Aber mir fällt kein besserer ein. Mach’s gut.“
Oleg drehte sich noch einmal um und fragte: „Darf ich das letzte Wort haben?“
„So weit kommt’s noch, Oleg.“

Alle Oleg-Kolumnen:

Gastbeitrag: Fußball – heiß und kalt

6

Iris’ Mann war einer der glücklichen 75000, die am Sonnabendabend das WM-Qualifikationsspiel zwischen Russland und Deutschland in Moskau im Stadion erlebt haben. Hier ist sein Bericht:

Der Tag verspricht schön zu werden. Nach mehreren Trübwettertagen lässt sich endlich mal wieder die Sonne sehen. Gute Stimmung vorprogrammiert. Tolles Spiel in Aussicht. Aber „warm anziehen“ ist natürlich angesagt, auch wegen der durchaus spürbaren Kühle der Luft.

Auf dem Weg zum Stadion immer mehr und mehr russische Fans und „Fans“. Die einen, mit Mützen, Fahnen, Schals und Tuten ausgerüstet, in zielstrebiger Bewegung Richtung Luzhniki-Sportkomplex zur Unterstützung ihrer Mannschaft. Die anderen, ausgestattet mit allen Attributen staatlicher Hoheitsgewalt, verharren in entschlossener, unerschütterlicher Bewegungslosigkeit entlang einer vorgeschriebenen Strecke. Sie weisen offensichtlich nicht immer den direkten Weg, aber ihre Brust und die Schlagstücke in den Händen definieren eindeutig rechts und links und geradeaus.

1

Die Fanartikelstände sind dicht umlagert. Auch Fahnen und Schals des heutigen Gegners sind verfügbar, erfreuen sich aber nicht wirklich großer Nachfrage. Die kleinen Grüppchen vereinzelter deutscher Fans sind längst ausgestattet oder verzichten darauf. Sie bevorzugen heute aus irgendeinem Grund ein dezentes Auftreten in Zimmerlautstärke.

Rund um und erst recht auf dem Stadiongelände selbst gibt es keinen Verkauf von Alkohol. Die russischen Fans haben deshalb zum großen Teil den Nachmittag genutzt, um vorab ein paar Promille in den Adern zu bunkern. Aber alles läuft sehr diszipliniert ab, mit lautstarkem kollektiven Optimismus, der sich beim Anmarsch unüberhörbar in fröhlichen Rufen, Gesängen und Sprechchören äußert.

Die langen Schlangen vor den mehrfachen intensiven Personenkontrollen werden einfach mit der nötigen Zeit und Geduld hinter sich gebracht. Und endlich fällt der Blick in das sich füllende Stadion mit dem leuchtenden Grün in der Mitte. Die Zeit bis Spielbeginn vergeht schnell. Der Stadionsprecher schwört das Publikum auf seine Rolle ein: „Wir für Euch, Ihr für uns!“. Die Fans – eine Mauer im Rücken der eigenen Mannschaft! Alle machen mit. Mein ganzer Block C verschwindet unter einer einzigen riesigen russischen Flagge – interessant, das Treiben darunter.

4

Dann beginnt das Spiel. Erstaunlich – auch die russische Mannschaft zeigt zunächst Respekt und relative Zurückhaltung. Doch bei jedem Pass oder Lauf der eigenen Mannschaft in die gegnerische Hälfte betäubt der Jubel der Fans die Ohren. Die russischen Fanblöcke in beiden Kurven feuern sich wechselseitig an. Doch unbeeindruckt und gut eingestellt tritt die deutsche Mannschaft auf. Stabile Abwehr vereitelt die russischen Attacken, zwischendurch zwei, drei gut gespielte Angriffe, und plötzlich das Tor! Für die Gäste! In den Beginn der Halbzeitpause klingen einige Pfiffe der Fans.

Als die zweite Halbzeit losgeht, besinnen sich die Gastgeber auf ihre Stärken. Pfeilschnelle Durchbrüche und genaue Pässe in den Rücken der Abwehr. So gute Chancen ! Zunichte gemacht durch einen glänzend aufgelegten deutschen Torhüter oder aber kläglich verdaddelt! Immer wieder! Und die Deutschen antworten mit wenig populären Mitteln: Zeitspiel, Simulation, Fouls. Gerechte Strafe – Rote Karte. Erneute Hoffnung! Und doch beginnt mit jedem vergeblichen Schussversuch und jeder ach-so-ungerechten Fehlentscheidung des Schiedsrichters die Mauer der Fans zu bröckeln. Und gerade als die Mannschaft die Unterstützung der Zuschauer am meisten brauchen könnte, in den letzten 10 Minuten, sorgt die Ankündigung des Stadionsprechers über die Vorschriften und Einschränkungen beim Verlasssen des Stadions für eine massive Flucht aus den „benachteiligten“ Sitzblöcken.


Plötzlich, ganz unspektakulär, ist das Spiel aus. Die immer noch reichlich verbliebenen Fans, ernüchtert durch das Resultat und die verstrichenen zwei-drei Stunden Zeit, ergeben sich in ihr Schicksal. Warten heißt es, bis der eigene Sitzblock das Stadion endlich verlassen darf. Nur, wenn in die erschöpfte Stille plötzlich doch die Gesänge des kleinen deutschen Fanblocks dringen, rafft sich das Publikum noch einmal zu allgemeinem Protestgetöse auf.

Übrigens fanden am selben Tag weitere drei Spiele zwischen Russland und Deutschland statt: Mannschaften der Jugend, der Veteranen, der Fans, Alle wurden von den Russen gewonnen. Am schlimmsten kamen die deutschen Fans mit 0:7 unter die Räder. Was aber wiegt das im Vergleich zur Niederlage im entscheidenden Match, dem der „Sbornaja“ in der WM-Qualifikation?

Superstar Arschawin sagte vor dem Spiel:

Ehrlich gesagt, ich möchte über das Thema Relegationsspiele nicht einmal nachdenken, geschweige denn darüber diskutieren, wer darin gegen wen spielen wird.

Tja, hat wohl heute nicht sollen sein.