ODESSA/UKRAINE Wenn ich das nächste Mal in die Ukraine komme, bringe ich 5000 Kinder-Laufräder mit, mindestens, und werde Millionär. Ich verstehe rein gar nichts von Existenzgründereien, traue mir aber durchaus eine einfache Marktanalyse zu: Nachfrage riesig, Angebot null, folglich auch keine Konkurrenz. Ich hätte das Monopol. Seit einem Jahr fährt mein Sohn mit seinem Laufrad aus Deutschland durch Odessa – und er wird bestaunt von allen. Die Jungen sind neidisch und betteln, bis sie mal Probe fahren dürfen. Väter erkundigen sich, wo es ein solches Gefährt ohne Pedalen zu kaufen gebe. Die Mädchen kriegen weiche Knie. Mein Sohn ist auch nicht gerade schüchtern oder uneitel. Wenn er fährt, imitiert er, brummend, schnaubend, röhrend, sabbernd, Motorradgeräusche, 1000 Kubik aufwärts. Das ist im Groben mein Businessplan, so etwas braucht man ja heutzutage, um Investoren zu finden.
Die Einzelheiten meines Unternehmens – Transport, Genehmigungen aller Art, Vertrieb – müssten noch geklärt werden. Aber um mir das Copyright zu sichern, dass nur ich mit Laufrädern in der Ukraine handeln darf, müsste das genügen. Meinem Freund Oleg würde ich gern einen Posten versprechen. Er hat sich auch schon beworben, initiativ sozusagen, mit vagen Arbeits-, aber umso genaueren Gehaltsvorstellungen, schnelle Griwna, natürlich gekoppelt an den Euro. Leider kann ich mir nur einen Unfähigen leisten.
Vorhin hat mich Oleg besucht. „Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten kann, Kolumnist?“, fragte er.
„Komm rein.“
„Oh, du ziehst um?“
„Setz dich.“
„Sehr witzig.“
„Denk dir ‘nen Stuhl.“
„Ist dir die Gegend nicht mehr fein genug?“, fragte Oleg und lehnte sich dort an die Wand, wo bis vor ein paar Stunden noch der große Spiegel gehangen hatte.
„Ick zieh nach Berlin, wa.“
Oleg schluckte zweimal. „Ab wann?“, fragte er.
Ich suchte meinen Zettel mit den Flugdaten, ließ das Papier rascheln und stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich.“
„Der 9. November ist also das Ende des Kolumnismus?“, fragte Oleg.
„Es sieht so aus“, sagte ich.
„Na ja, es wird auch Zeit. Vierzig Kolumnen…“
„…vierundvierzig, Oleg, vierundvierzig…“
„…nur gelogen und betrogen.“
„Aber es waren doch nicht alle schlecht.“
Schaschlik im Regen
Wir schwiegen eine Weile miteinander. Ich trank mein letztes ukrainisches Bier, Oleg blieb bei Wodka. Er rauchte und klopfte die Asche auf den Boden.
„Wo wirst du eigentlich wohnen in Berlin?“, fragte er.
„Charlottenburg.“
„Charlottograd. Sehr schön.“
„Es gibt am S-Bahnhof Charlottenburg ein russisches Geschäft, es heißt Glücklicher Tag, und selbst bei Regen und Kälte wird draußen Schaschlik gegrillt.“
„Kenn ich“, sagte Oleg, „mein Freund Sascha, echter Odessit wie ich, wohnt auch in Charlottograd. Ich gebe ihm deine Telefonnummer!“
Mit Olegs Freunden ist das so eine Sache. Ich habe nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich hätte zum Beispiel nicht gedacht, dass es auf dieser Welt einen Mann gibt, der anstrengender ist als mein Freund Oleg. Dann habe ich vor ein paar Wochen Juri kennen gelernt. Juri ist Olegs Freund in Kiew. Oleg hatte ihn beauftragt, mich vom Flughafen Borispol abzuholen und zum Hotel zu bringen. Juri sei ein guter Typ, hatte Oleg gesagt. Juri wartete an seinem Auto und telefonierte wie diese Kino-Kriminellen, indem er beim Sprechen eine Hand vor den Mund hielt. Dann schlug er mir mit seiner Riesenhand auf den Rücken, als würden wir uns schon Jahre kennen.
„Hab viel von dir gehört, Kolumnist“, sagte er.
„Hoffentlich nur Gutes.“
„Auch.“
Sozialismus oder Stau
Juri steckte in einem dieser glänzenden Anzüge, in denen man sich fast spiegelt, hatte ein Handtäschchen dabei und trug eine Riesenuhr. Sein Kreuz war sehr beachtlich. Juri fuhr mit quietschenden Reifen los und legte gleichzeitig eine CD von Rammstein ein. Dann grunzte er mit.
„Wenn du’s nicht magst, sag’s einfach“, sagte er. „Ich habe auch Modern Talking.“
Zehn Minuten später standen wir. Vorne und hinten, natürlich auch seitlich, wurde gehupt. Juri ließ die Hupe kurz los und fragte: „Hast du was gesagt?“
„Stau?“
„Das ist kein Stau.“
„In Odessa ist auch immer Stau.“
„Das ist kein Stau! Hörst du: kein Stau! Vielleicht wäre das in deinem Odessadorf ein Stau, aber Kiew ist eine Metropole, und deshalb ist das hier definitiv kein Stau. Wäre heute Stau, stünden wir an der Schranke vom Parkplatz des Flughafens.“
„Entschuldige.“
„Schon gut“, sagte Juri und hatte plötzlich wieder gute Laune. „Früher war in Kiew weniger Verkehr. Da hatte nicht jeder Depp ein Auto. Na ja, Sozialismus oder Stau, man kann nicht alles haben.“
Juri drehte Rammstein abermals lauter, trommelte mit beiden Daumen aufs Lenkrad und brüllte den Refrain mit, ohne dass ich etwas verstand.
„Nun guck dir mal diesen Penner an“, sagte er und zeigte auf die Mittelspur. Er ließ die Scheibe herunter und schrie: „Der Porsche Cayenne ist ein Frauenauto. Ein Frau-en-au-to! Der Kolumnist macht dich fertig.“
Bis zum Hotel beleidigte Juri noch zwei Cayennefahrer, er ließ den Japaner aufheulen, wenn junge Kiewerinnen die Straßen überquerten, und meinte entschuldigend, er flirte nun einmal gerne, zwischendurch telefonierte, aß und rülpste er. Manchmal tat er all dies auch gleichzeitig. Am Ende aber holte er mir meine Reisetasche aus dem Kofferraum, weil ich, wie er sagte, ein bisschen blass aussähe.
„Sind 10 Euro, okay?“, fragte ich aus Höflichkeit.
„Hey, du bist Olegs Freund“, sagte Juri.
„Bin ich.“
„20.“
„15.“
„25.“
Da wusste ich, dass Juri einer dieser Leute ist, für die man das Wort „gerissenhaft“ erfinden müsste. Vom Hotel zum Flughafen drei Tage später bin ich mit dem Taxi gefahren; das war billiger.
Mein Sohn, das neunmalkluge Dickerchen
„Was ist jetzt?“, fragte Oleg. „Soll ich Sascha deine Telefonnummer geben?“
„Gib mir seine, ich ruf ihn bestimmt an.“
„Wirst du Odessa gar nicht vermissen?“
Wahrscheinlich werde ich erst in Deutschland spüren, wie sehr ich mich an die Ukraine gewöhnt habe. Ich muss einiges neu lernen. Ich darf wieder Wasser aus dem Hahn trinken. Ich darf nicht irgendwo Busse anhalten, wenn ich mitgenommen werden will. Noch aber halte ich Bushaltestellen für eine vollkommen unsinnige Erfindung. Sollte ich von der Polizei kontrolliert werden, darf mir nicht einfallen, die Beamten bestechen zu wollen. Andererseits wird es sich toll anfühlen, wenn ich ins Auto steige, ohne vorher im Kopf durchzuspielen, auf welcher Straße heute Polizisten herumlungern, um Schmiergeld zu kassieren.
Um meinen Sohn mache ich mir kaum Sorgen. Er wird in Berlin einen russisch-deutschen Kindergarten besuchen, in dem zwei der drei Erzieherinnen aus der Ukraine stammen. Er bekommt weiterhin drei warme Mahlzeiten in acht Stunden – morgens Brei, mittags Suppe und Hackbällchen mit Püree, nachmittags irgendetwas Öliges, das nach Ei schmeckt – und hat einmal pro Woche Schachunterricht. Da ist der weitere Lebensweg schon einmal grob vorgegeben, es läuft hinaus auf: neunmalkluges Dickerchen. Mit sehr viel Glück reicht es zum Schachweltmeister. Aber sollte in 25 Jahren ein schlanker Deutscher einem dieser Genies aus Russland, Usbekistan oder sonst woher den Titel abjagen, können Sie sicher sein: Mein Sohn ist es nicht.
Eines fernen Tages werde ich – hoffentlich angemessen senil – auf Familienfeiern die alten Geschichten hervorkramen, bis die Kinder und Enkel flüstern: „Ach, Opa erzählt schon wieder von der Ukraine.“ Dann bringen sie mir ein großes Glas Nemiroff oder irgendeinen anderen Wodka, der mich an Odessa erinnert und ein bisschen wehmütig macht, streicheln mir über die Glatze und sagen: „Hattest es nicht leicht, damals. Trink mal einen! Und dann erzählst du, wie Oleg deine Klotür reparieren sollte oder wie ihr deinen 31. Geburtstag gefeiert habt.“
„Der hieß nicht Oleg!“, werde ich brüllen. „Der hieß, äh, der hieß…äh…was weiß ich, Justin oder so, ist auch egal. Aber ein toller Kerl war das. Solche Männer gibt es heutzutage gar nicht mehr.“
Oleg schraubte die Wodkaflasche zu und packte sie in seinen Rucksack. Er band sich die Schuhe zu und sagte: „Gib wenigstens zu, dass du keine Ideen mehr hast für neue Kolumnen.“
„Ach Oleg, ich habe zum Beispiel noch nie erzählt, wie das war, als mich fünf afrikanische Journalisten in Schwerin besucht haben und plötzlich mein Tisch mit dem Rotwein, dem Bier und dem Abendessen auf dem Hof zusammengebrochen ist. Schade um die schöne Geschichte. Ein Kolumnist soll aufhören, wenn’s am witzigsten ist.“
„Dann hättest du aber nach der ersten Kolumne Schluss machen müssen.“
Wir versuchten uns zu umarmen, aber das misslang uns natürlich. Wie hätte es auch anders sein sollen? Oleg stand schon in der Tür und ging nicht. Ich hatte die Klinke schon in der Hand und machte nicht zu. Es war einer dieser Augenblicke, die einem so unendlich lange vorkommen, wenn man sie gerade erlebt, und deren Wucht trotzdem so schnell vergessen ist. Dann ging Oleg die Stufen hinunter, ganz leise, so dass seine Schritte kaum zu hören waren.
„Weißt du“, rief ich hinterher, „ich freue mich sosehr auf meine neue Aufgabe. Das ist eine tolle Herausforderung, ein spannendes Projekt. Do swidanija!“
„Für einen Kolumnisten ist das ein ziemlich armseliger Schluss.“
„Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Aber mir fällt kein besserer ein. Mach’s gut.“
Oleg drehte sich noch einmal um und fragte: „Darf ich das letzte Wort haben?“
„So weit kommt’s noch, Oleg.“
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